Kanada wählt Premier Harper unter Druck
10.10.2008, 14:01 UhrAls Mitglied der mächtigen G8-Runde spielt Kanada im Ringen um eine Lösung der Finanzkrise eine wichtige Rolle. Bei den Bemühungen um Hilfe für die strauchelnde Finanzbranche sitzt Premierminister Stephen Harper im Bremserhäuschen - und hat damit nach Einschätzung von Wahlanalysten viel Rückhalt bei der Bevölkerung verspielt.
"Wir werden uns nicht in eine Situation begeben wie die Vereinigten Staaten, in Panik ausbrechen und jeden Tag einen neuen Plan verkünden", sagte der 49-Jährige noch vor wenigen Tagen. Allen Voraussagen zufolge wird der Konservative Harper auch nach der Parlamentswahl am 14. Oktober wohl Regierungschef bleiben, allerdings kaum mit einer gestärkten Position.
Wahl-Coup wird wohl misslingen
Dabei hatte Harper große Erwartungen in den Urnengang gesetzt. Als er die vorgezogene Wahl vor fünf Wochen ausrief, befand sich seine Partei im Umfragehoch. Er hoffte, statt seines wackeligen Minderheitskabinetts eine tragfähige Regierungsmehrheit zu bekommen. Doch jetzt droht er nach der Wahl schlechter dazustehen als zuvor.
Meinungsumfragen sagen den Konservativen mit einem Wahlergebnis von gerade mal 34 Prozent (2006: 36,3) eine dürftige Mehrheit vor den Liberalen mit 26 Prozent (30,2) voraus. Fürs Regieren wäre der Premier erneut auf wechselnde Unterstützung durch die Oppositionsparteien angewiesen.
Bibelfester Premierminister
Grund für den Sinkflug seiner Sympathiewerte ist Beobachtern zufolge Harpers Kurs der "ruhigen Hand". Obwohl seit Beginn des Wahlkampfs nahezu täglich neue Schreckensmeldungen aus den benachbarten USA kommen, erklärte er die kanadische Wirtschaft für gefeit vor solcher Unbill.
Durch rechtzeitige Vorsorge sei die Lage am Kreditmarkt stabil, die Banken hätten ausreichend Kapital und die Zahl der Arbeitsplätze nehme weiter zu. "Noah hat seine Arche in trockenen Zeiten gebaut", sagte Harper. "Deshalb musste er nicht in Panik ausbrechen und das Boot wechseln, als der Regen kam."
Kanada steht gut da
Tatsächlich steht Kanada, der engste Wirtschaftspartner der USA, noch vergleichsweise gut da. Die Arbeitslosenquote liegt mit 6,1 Prozent fast so tief wie seit 30 Jahren nicht mehr. In den ersten acht Monaten dieses Jahres entstanden 87 000 neue Jobs, auch wenn sich das Tempo deutlich verlangsamt hat.
Und der Internationale Währungsfonds (IWF) attestierte dem Land diese Woche, es könne als einziges Mitglied der Gruppe der sieben großen Industrieländer (G7) 2009 mit einem Wachstum von mehr als einem Prozent rechnen.
"Kapitän, der am Ruder schläft"
Gleichwohl sind die Schockwellen aus den USA auch in Kanada zu spüren. Die Börse in Toronto verzeichnete Anfang der Woche ihren größten Tagesverlust seit 20 Jahren, und der Leitindex TSX verlor binnen eines Jahres rund 30 Prozent.
Die Opposition wirft Harper vor, die Sorgen der Menschen um ihr Geld nicht ernst zu nehmen. "Er sagt, wir sollen nicht in der Mitte des Flusses die Boote wechseln. Aber wir haben einen Kapitän, der am Ruder schläft", kritisierte der liberale Oppositionsführer Stphane Dion. Sein Wahlversprechen ist, innerhalb von 30 Tagen nach der Wahl die Top-Experten des Landes zu versammeln, um der Krise aktiv zu begegnen.
Harpers Vietnam
Für Negativschlagzeilen sorgt zudem ein neuer Bericht, in dem Experten die Kosten des umstrittenen Afghanistan-Einsatzes ("Harpers Vietnam") auf mindestens 20 Milliarden kanadische Dollar (13 Milliarden Euro) beziffern - mehr als das Doppelte der von der Regierung angegebenen Summe.
Die Bevölkerung steht der Mission ohnehin mehrheitlich ablehnend gegenüber. Kanada hat inzwischen fast 100 Soldaten am Hindukusch verloren. Mit der Studie dürfte im Wahlkampfendspurt das Thema neue Brisanz gewinnen.
Dritte Wahl in vier Jahren
Für die Kanadier ist die Wahl die dritte innerhalb von vier Jahren. Harper ist seit Anfang 2006 nach einem Misstrauensvotum gegen die zuvor 13 Jahre lang regierenden Liberalen im Amt. Bei der letzten Wahl holte seine Konservative Partei 124 der 308 Mandate, die Liberalen kamen auf 103. Der Bloc Quebecois, der die Unabhängigkeit des französischsprachigen Landesteils anstrebt, gewann 51, die sozialdemokratische NDP 29 Sitze.
Quelle: ntv.de, Nada Weigelt, dpa