Dossier

"Psychische Folter" Protest gegen Abschiebehaft

"Tot – aber nicht vergessen!" So lautet der Aufruf zu einer Demonstration gegen Abschiebehaft in Deutschland. Der 30. August wurde als Datum gewählt. Vier Menschen kamen in den Jahren 1983, 1994, 1999 und 2000 an diesem Tag in Abschiebehaft ums Leben. Yolanda Bakker von der Berliner "Initiative gegen Abschiebehaft" kennt viele Menschen in Abschiebehaft persönlich.

n-tv.de: Sind die vier Männer die einzigen Toten?

Yolanda Bakker: Nein, allein 2006 sind vier Leute umgekommen, seit 1983 mehr als hundert Menschen - durch Selbstmord, bei Unfällen während der Haft oder bei der Abschiebung. Beispielsweise sprang Cemal Altun aus der Türkei 1983 aus dem Fenster des Gerichtssaals, obwohl er als Asylbewerber in Deutschland anerkannt war. Das Abschiebeverfahren war wegen eines Verdachts eingeleitet worden, demzufolge Altun mit terroristischen Vereinigungen im Kontakt stehen sollte. Beweise gab es aber nicht.

Was sind Ihre Hauptkritikpunkte am deutschen System der Abschiebung?

Abschiebehaft ist eine unmenschliche Verwaltungsmaßnahme. Leute werden gefangen gehalten, ohne dass sie wissen, wie lange und ob sie abgeschoben werden. Für mich ist das wie Folter, psychische Folter. Es kann jeden Moment passieren, dass es heißt: "Pack deine Sachen!" Die Leute werden dann abgeschoben – oder sie kommen frei. In etwa 40 Prozent der Fälle werden die Insassen aus der Abschiebehaft wieder freigelassen, ohne abgeschoben zu werden.

Wie lange kann die Abschiebehaft dauern?

Unterschiedlich, die Leute können bis zu 18 Monate festgehalten werden, obwohl sie vorher oft jahrelang mit Aufenthaltsstatus oder Duldung in Deutschland gelebt haben. Sie haben als Häftlinge weniger Rechte als Straftäter, beispielsweise kein Recht auf einen Pflichtverteidiger. Ihren Anwalt müssen sie selber bezahlen.

Aber nicht alle Ausländer in Abschiebehaft sind unschuldige Engel.

Nein, aber die meisten schon. Die Leute, die in Abschiebehaft sitzen, sind ein Durchschnitt der Gesellschaft. Natürlich gibt es da auch ein paar so genannte Arschlöcher. Aber in einem Rechtsstaat hat jeder die gleichen Rechte. Und die Leute sind schließlich nicht in der Abschiebehaft, um eine Strafe abzusitzen, sondern werden einzig und alleine festgehalten, damit man sie leichter abschieben kann.

Wie gerät ein Ausländer, der legal in Deutschland lebt, in Abschiebehaft?

Das ist fallabhängig. Es kann passieren, dass die Ausländerbehörde eine Abschiebung beschließt, dass aber der Zeitpunkt noch nicht feststeht. Oft können sich Menschen keine Papiere beschaffen, um ihren Aufenthaltsstatus zu verlängern. In Deutschland gibt es ein funktionierendes Meldesystem. Aber in vielen osteuropäischen Staaten bekommt man ohne Bestechungsgeld nur sehr schwer Papiere, wenn die alten verloren gegangen oder abgelaufen sind.

Das heißt, das System ist nicht mit den Rechtssystemen anderer Länder kompatibel?

Richtig, und regelmäßig werden Asylbewerber innerhalb von Europa abgeschoben. Das sind Leute, die in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt haben und dann für ein Wochenende nach Berlin fahren. Sie wollen dort gar nicht bleiben und denken, dass sie schlimmstenfalls wieder nach Italien oder Belgien zurückgeschickt werden. Ich habe eine Frau aus Tschetschenien getroffen, die in Belgien gemeldet ist und drei Wochen in deutscher Abschiebehaft auf ihre Abschiebung nach Belgien gewartet hat, ein äthiopischer Asylbewerber aus Italien, saß viereinhalb Monate in Abschiebehaft und wartete auf seine Abschiebung nach Italien.

Ihre Initiative will Abschiebung ganz abschaffen. Das klingt utopisch. Was müsste sich ändern?

Zuerst müsste die Bevölkerung mehr erfahren über die Schicksale, die die Menschen aus ihrer Heimat treiben, und über die Schwierigkeiten, die sie als Ausländer in Deutschland haben, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Die Leute kommen nicht hierher, um das Sozialsystem auszubeuten. Sie kommen, weil sie eine Lebensperspektive für sich und ihre Familie suchen. Aus meiner Sicht ist die restriktive Einwanderungspolitik der EU nicht zeitgemäß.

Aber das Wissen um die Schicksale allein ändert noch nichts.

Die Menschen werden kommen, solange man die Gründe nicht angeht, die sie zwingen, ihr Land zu verlassen. Im Übrigen ist das ganze Abschiebesystem wahnsinnig teuer und ineffektiv. Wie schon gesagt, wird fast die Hälfte der Häftlinge freigelassen und bekommt wieder eine Duldung. Man stellt sich Abschiebung so einfach vor, sie ist es aber nicht. Die Menschen sind hier verwurzelt und haben hier ihre Familie.

Wer trägt die Kosten?

Zum Teil die Häftlinge selbst. Ihnen werden 65 Euro pro Tag in Rechnung gestellt sowie die Kosten der Abschiebung. Wenn sie irgendwann legal nach Deutschland zurückkommen wollen, müssen sie zuerst das Geld zahlen. Ich kenne den Fall einer armenischen Frau, die vier Monate in Abschiebehaft verbrachte, aber nicht abgeschoben wurde. Wenn sie jetzt nach Armenien fährt und dann wieder nach Deutschland einreisen möchte, muss sie erst rund achttausend Euro zahlen.

Immer wieder heißt es, das EU-Boot sei voll. Was sagen Sie zu der Befürchtung, dass zu viel Einwanderung unsere Sozialsysteme sprengt?

Die Leute liegen dem Staat auf der Tasche, weil sie nicht arbeiten und keine Ausbildung machen dürfen. Man muss sich nur die Situation der Menschen aus Jugoslawien vorstellen. Die sind seit 1993 mit einer Duldung hier und dürfen kein Geld verdienen. Da liegt das Problem, und nicht darin, dass zu viele Menschen hier sind. Das Boot ist nicht voll.

Mit Yolanda Bakker sprach Nona Schulte-Römer

Quelle: ntv.de

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