Opposition sieht Chancen Putin und die Krise
26.10.2008, 14:46 UhrRusslands Regierungschef Wladimir Putin will es allem Anschein nach nicht wahrhaben. "Wir haben keine Krise", belehrt der 56-Jährige die Bevölkerung. Doch die Zahl derer, die Russlands "nationalem Führer" nach fast einem Jahrzehnt wirtschaftlichen Aufschwungs widersprechen, wächst. Am Wochenende gingen landesweit Menschen auf die Straße, um ihrem Ärger Luft zu machen. Sie fürchten wegen der Finanzkrise und sinkender Öl- und Gaspreise Jobverlust, Rubelverfall und Armut wie in den 1990er Jahren. Putin sieht sein als Kremlchef geschaffenes Lebenswerk in Gefahr. Doch Experten und die zersplitterte Opposition schöpfen wieder Hoffnung auf eine Liberalisierung des Riesenreichs.
"In dieser Krise wird allen klar, dass das Regime verfault. Alles Gerede von Stabilität hat sich als Unsinn erwiesen", rief der St. Petersburger Chef der liberalen Oppositionspartei Jabloko, Maxim Resnik, bei einer Demonstration. In St. Petersburg, Moskau und etwa 40 weiteren Städten forderten Gewerkschaften, Studenten und Menschenrechtler "Zum Tag des Volkszorns" politischen Wandel in Russland. Medien berichteten zuletzt von einer wachsenden Angst in der Bevölkerung, von einzelnen Panikkäufen und leeren Supermarktregalen, aber auch von verspäteten Lohnzahlungen.
Inoffizieller Pakt läuft aus
Das russische Wochenmagazin "The New Times" vermutet, dass der seit langem bestehende inoffizielle Pakt zwischen Volk und Lenkern im Kreml ausläuft. Das System, bei dem sich die Bevölkerung aus der Politik raushalte zum Dank für ein würdiges Leben, stehe vor dem Aus, meint der Präsident des Instituts für nationale Strategien, Stanislaw Belkowski in dem Beitrag. Die staatliche Gängelung, die "hysterisch gepflegten Feindbilder" samt aggressiver Außenpolitik - "das ist der Weg in den Kollaps", warnt der Moskauer Politologe Mark Urnow. Er sieht Chancen, dass der Kreml wegen der Krise den "Druck auf die Opposition" lockert und die Beziehungen zum Westen normalisiert.
Im Moment allerdings präsentiert sich Putin als "Premier des wirtschaftlichen Optimismus'", kommentiert die Zeitung "Kommersant". Trotz des rasanten Kapitalabflusses fußt Russlands Selbstvertrauen weiter auf Währungsreserven von mehr als 500 Milliarden US-Dollar. Doch die Menschen in Russland klagen laut Moskaus Zeitungen zunehmend darüber, dass sie Kredite für Autos und Wohnungen vorzeitig zurückzahlen sollen. Die Folgen sind unter anderem drastische Rückgänge bei den Neuzulassungen von Pkw sowie Preiseinbrüche auf dem Immobilienmarkt. Die Inflation ist auf über elf Prozent gestiegen.
Sorgenfalten im Gesicht
"Wir haben Schwierigkeiten, aber - Gott sei Dank - keine Krise", beschwört Putin die Gesprächspartner auf seinen Reisen. Dabei sind die Sorgenfalten in seinem Gesicht unübersehbar. Die Regierung legt immer neue Hilfspakete auf, um die vor allem von ausländischen Krediten gestützten Banken und Unternehmen vor dem Bankrott zu retten. Die bereits wegen Russlands August-Krieg mit Georgien gebeutelte RTS-Börse verlor inzwischen zwei Drittel des Wertes, den sie vor Beginn der Krise hatte. Putin und Präsident Dmitri Medwedew geben weiter den USA die Schuld an der Misere. Russland werde die Probleme überwinden, betonen die beiden.
"Die Krise wird in Russland dazu benutzt, um die Ressourcen neu zu verteilen mit dem Ziel, dass der Staat die volle Kontrolle über die privatisierte Wirtschaft erhält", vermutet der frühere Kremlberater Andrej Illarionow, der heute in den USA lebt. Der frühere Regierungschef Jegor Gaidar geht fest davon aus, dass die Krise auch politische Folgen haben wird. "Zwei Szenarien sind vorstellbar - die Liberalisierung des bestehenden Regimes oder Versuche, das System abzuschaffen", meint er.
Bisher hat die russische Führung sich jedoch stets darauf verlassen, dass für viele Menschen Demokratie eher mit dem Chaos der 1990er unter Präsident Boris Jelzin verbunden ist als mit echten Werten. Menschenrechtler beklagen, dass sich seit Medwedews Amtsantritt am 7. Mai politisch nichts geändert habe in Russland. Dabei hatte Medwedew versprochen, er wolle gegen Korruption kämpfen und für freie Medien und Rechtstaatlichkeit sorgen.
Quelle: ntv.de