Mit 101 Kanonenschüssen Reizfigur Kaiser Wilhelm II.
27.01.2009, 10:59 Uhr101 Kanonenschüsse begrüßten vor 150 Jahren, am 27. Januar 1859, in Berlin die Geburt eines Jungen im Kronprinzenpalais Unter den Linden - im Falle eines Mädchens wären es nur 25 Schüsse gewesen. Die Mutter war die 19 Jahre alte englische Prinzessin Victoria, die ein Jahr vorher in London die Ehe mit Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen eingegangen war. Tausende strömten am Palais zusammen und bejubelten die Geburt eines Thronerben. Auch in London gab es Freudenkundgebungen. Erfreut äußerte sich auch Großmutter Queen Victoria. Das preußisch-britische Heiratsbündnis hatte eine erste Frucht getragen.
29 Jahre später, 1888, bestieg dieser älteste Sohn des Paares als Wilhelm II. den Kaiserthron des inzwischen gegründeten Deutschen Reichs. Er folgte damit den im gleichen Jahr gestorbenen Wilhelm I. und Friedrich III., seinem Vater, der nur 99 Tage Kaiser gewesen war. Die folgenden Jahre bis zum Ausbruch des Weltkriegs 1914-1918 galt Deutschland unter den europäischen Mächten als eine sich besonders kraftvoll entwickelnde, aufstrebende Nation - politisch, wirtschaftlich, militärisch, auch in Technik und Wissenschaften. Der Rechtsstaat wurde gefestigt. Die Entwicklung zu einer parlamentarischen Demokratie kam voran. Der Wohlstand wuchs.
Tönendes Großmachtgehabe und Militarismus
Trotz alledem ist die Kennzeichnung "Wilhelminische Epoche" zwiespältig und vieldeutig. Der Begriff "Wilhelminismus" steht nachträglich auch für Anmaßung, hohlen Glanz, tönendes Großmachtgehabe und Militarismus. Schon von Zeitgenossen gab es radikale Kritik. Das Maß an Verachtung, welches Deutschland entgegengebracht werde, schrieb 1906 der Sozialwissenschaftler Max Weber, "weil wir uns dieses Regime dieses Mannes gefallen lassen, ist nachgerade ein Machtfaktor von erstklassiger "machtpolitischer" Bedeutung geworden".
Unter den Männern an der Spitze des 75 Jahre währenden Deutschen Reichs ist Wilhelm II. jedenfalls bis in die Gegenwart von besonderem internationalem Interesse. Nur über Adolf Hitler ist mehr geschrieben worden als über ihn. Neben der Frage seiner Mitverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist dieses Interesse vor allem bedingt durch sein schillernd-exzentrisches Wesen, sein Auftreten und die Widersprüchlichkeiten seiner Persönlichkeit.
"Ein eitler Schwadroneur"
Die Historikerzunft beurteilt ihn vorwiegend negativ. Heinrich August Winkler charakterisierte ihn vor einigen Jahren als "vielseitig begabt, aber oberflächlich, ein prunkliebender, eitler Schwadroneur, der immer Unsicherheit und eine körperliche Schwäche, den von Geburt an verkrüppelten linken Arm, durch markige Reden auszugleichen versuchte". Wolfgang J. Mommsen machte immerhin geltend, dass "die Deutschen den Kaiser hatten, den sie - ungeachtet aller Probleme - haben wollten", und dass er populär gewesen sei.
John C.G. Röhl bestreitet dies. In seiner kürzlich abgeschlossenen dreibändigen Biografie vermittelt er ein besonders abschätziges, auch von psychopathischen Zügen bestimmtes Bild von ihm. Seine Jahrzehnte zurückreichende intensive Beschäftigung mit ihm hat auch damit zu tun, dass er selbst eine englische Mutter und einen deutschen Vater hat. Auch damit, dass für Wilhelm II. die Politik gegenüber Großbritannien herausragende Bedeutung hatte und es dabei unter seinem Einfluss und seiner Mitwirkung wiederholt zu Spannungen und britischem Misstrauen kam.
Eine komplexe Persönlichkeit
Dem Briten Christopher Clark ist der "spöttische, verunglimpfende, ja sogar verteufelnde Tonfall vieler historiographischer Kommentare" zu Wilhelm zuwider. In seinem um Ausgewogenheit bemühten Buch "Kaiser Wilhelm II." beschreibt er ihn als komplexe Persönlichkeit, einen intelligenten Menschen, keineswegs unbedeutend, jedoch mit einem schlechten Urteilsvermögen, der zu taktlosen Ausbrüchen und kurzlebigen Begeisterungen tendierte, eine ängstliche, zu Panik neigende Gestalt, unfähig ein eigenes konzises Programm durchzuhalten. Zu seiner Rolle in der internationalen sogenannten Julikrise 1914 schreibt Clark, er habe Deutschland zwar nicht in einen kontinentalen Krieg verwickeln wollen, doch einige der Entscheidungen getroffen, die ihn herbeiführten. Vom Kaiser Franz Joseph (Österreich) und Zar Nikolaus könne man das gleiche sagen.
Am Ende des verlorenen Kriegs 1918 entschloss er sich zur Abdankung und ging ins Exil in die Niederlande. Nach einer kurzen Zeit im Kastell Amerongen in der Provinz Utrecht lebte er bis zu seinem Tod am 4. Juni 1941 im Haus Doorn in der gleichen Provinz. Große Freude hatte ihm im Jahr vorher der siegreiche deutsche Feldzug in Frankreich bereitet, auf dessen Boden seine Armeen einst gescheitert waren. Er gratulierte Hitler in einem Telegramm "zu dem von Gott geschenkten gewaltigen Sieg". Über seinen Tod berichteten deutsche Zeitungen gemäß offizieller Verfügung des NS-Staates nur mit einspaltiger Überschrift auf der unteren Hälfte der ersten Seite.
Quelle: ntv.de