Hartz-Satz für Kinder Rüffel aus Kassel
27.01.2009, 15:23 UhrBeifall ist in Bundesgerichten, vorsichtig gesagt, unüblich. Im Bundessozialgericht setzte ein Arbeitsloser am Dienstag dennoch zum Klatschen an, als die rotgewandeten Richter ihren Beschluss verkündeten: Die Begrenzung des Hartz-IV-Satzes für Kinder auf 60 Prozent sei grundgesetzwidrig, das Bundesverfassungsgericht müsse das Gesetz prüfen. Abgeschafft ist die Regelung damit zwar noch lange nicht. Eine scharfe Kritik am Gesetzgeber ist der Beschluss dennoch.
Ein Hartz-IV-Empfänger bekommt derzeit 351 Euro monatlich, zusätzlich Miete und Nebenkosten. Für jedes Kind gibt es 211, für einen Jugendlichen 281 Euro. Für Elena Wilhelm ist nicht nachvollziehbar, wie sie davon ihre Kinder versorgen soll. "Die beiden Großen essen so viel wie ich, mindestens. Und auch für die Kleine ist die Bekleidung so teuer wie für mich." Die Kasslerin hat 15 Jahre alte Zwillinge und noch eine siebenjährige Tochter. "Ich kann nur noch in Billigmärkten kaufen. Es geht nicht anders, auch wenn das die Zwillinge nicht verstehen. Aber ich spare schon immer bei mir, damit es bei den Kindern reicht."
Teure Babynahrung
Eine andere Frau im Kasseler Arbeitsamt mag ihren Namen nicht veröffentlicht sehen, spricht aber von ähnlichen Sorgen: "Ich habe drei Kinder, elf, acht und eineinhalb Jahre alt. Das Geld reicht nicht, weil für Kinder alles genauso teuer und manchmal teurer ist", sagt die 32-Jährige. An einen Gameboy sei nicht zu denken, an ein Handy für den Großen erst recht nicht. "Es reicht ja nicht einmal für neue Klamotten. Die müssen wir gebraucht kaufen. Und bei der Kleinen sind Pampers und Babybrei richtig teuer." Ihre Konsequenz: "Ich habe jetzt einen Job in England. Zum 1. März bin ich weg."
Klagen wie diese wurden in Berlin durchaus gehört. Die Koalition will das Sozialgeld für größere Kinder zum 1. Juli von 60 auf 70 Prozent des Regelsatzes anheben. Aus 211 würden dann 246 Euro. Hinzu käme noch ein Schulgeld von 100 Euro im Jahr. "Das reicht sicher nicht, ist aber ein wichtiger Schritt" sagt Karin Schlüter. Die Mitarbeiterin der stadteigenen "Arbeitsförderung Kassel GmbH" weiß, was auf die Eltern von Schülern zukommt: "Immer wieder ein Heft, mal ein Zirkel, mal ein Schreiber. Und wenn die Schulen bestimmte Stifte vorschreiben, sind das oft nicht die billigsten."
Kein Geld für Nachhilfe
Kassel war früher so etwas wie die deutsche Hauptstadt der Sozialhilfeempfänger. Auch heute noch lebt etwa jeder zehnte von Hartz IV. "Die Zahlen gehen deutlich nach unten", sagt Silke Sennhenn von der Arbeitsagentur. "Vor drei Jahren waren es noch 24.582 Bezieher vom ALG II, 2007 dann 20.403 und im letzten Jahr 17.850. Aber uns bereitet Sorgen, dass diese Zahl immer noch dreimal so hoch ist wie die der "normalen" Arbeitslosen."
Eine der Hartz-IV-Empfängerinnen ist Andrea Schröder. Sie hat eine zehnjährige Tochter und einen achtjährigen Sohn. "Wie soll ich denen erklären, dass sie nicht das haben können, was andere Kinder haben? Sie sehen das nicht ein." Ein Gameboy sei zwar da, aber an Kino nicht zu denken. Auch die Kosten für das Essen seien hoch, sagt die 28-Jährige: "Das billigste essen die beiden nicht. Auch Kinder haben Ansprüche."
Unter soziokulturellem Existenzminimum verstehen Juristen den nicht festgelegten Betrag, der für eine Beteiligung am öffentlichen Leben reicht. Es genüge eben nicht, nur zu essen und Kleidung zu haben, auch Kino oder Volksfest müsse mal drin sein. Aber gehört der Hang eines jungen Mädchens nach Markenkleidung oder der Wunsch eines Teenagers nach einem Mobiltelefon zum Existenzminimum?
"Markenklamotten kann ich meiner Tochter sowieso nicht kaufen und ein Handy geht auch nicht. Aber erzählen Sie das mal zwei 15- Jährigen", sagt Elena Wilhelm. Viele Klassenkameraden am Gymnasium bekämen Nachhilfestunden - auch dafür sei kein Geld da. Und das Verständnis für die Situation fehle schon bei der Siebenjährigen: "Sie sieht ja, was wir uns alles nicht leisten können. Das Werbefernsehen ist jeden Tag die Hölle für uns."
Quelle: ntv.de, Chris Melzer, dpa