"Wir sind bei euch" Russland verneigt sich vor Polen
12.04.2010, 18:23 Uhr
Putin umarmt Tusk (links) in Smolensk.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Wie kein anderer Ort steht Katyn für die Gräuel, die der Kreml Polen angetan hat. Doch nun mehren sich die Anzeichen für eine zaghafte Annäherung Moskaus an Warschau.
Ausgerechnet Katyn. Der Ort, an dem Stalin 22.000 polnische Offiziere und Intellektuelle hinrichten ließ, könnte zu einem neuen Symbol werden. Bislang stand der Ort, an dem der sowjetische Geheimdienst NKWD im Frühjahr1940 ein blutiges Massaker veranstaltete, vor allem wie kein anderer für die Leiden Polens und jahrzehntelange Willkürherrschaft des Kreml. Ein großer Teil der polnischen Elite wurde damals ausgelöscht, jahrzehntelang durfte hierüber nicht berichtet werden. Für viele Polen kam die Wahrheit, die erstmals der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow vor 20 Jahren eingestand, wie ein Schock und zementierte das ohnehin desaströse Verhältnis zum überstarken Nachbarn, der sich über Jahrhunderte immer wieder Teile Polens einverleibt hatte.
Nun allerdings mehren sich die Anzeichen für eine zaghafte Annäherung zwischen Polen und Russland und die Überwindung der jahrhundertealten Feindschaft. Dafür sprechen zumindest Russlands erste Reaktionen nach der Tragödie auf dem Flughafen von Smolensk. Mit einer Vielzahl von Gesten drückt Moskau sein Mitgefühl aus, seit am Samstag Präsident Lech Kaczynski, seine Frau Maria sowie Dutzende weitere hochrangige polnische Politiker und Militärs in den Trümmern der Präsidentenmaschine starben. Vielleicht am eindrücklichsten war die Umarmung des gewöhnlich eher unterkühlten und in Polen höchst unbeliebten russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin für seinen polnischen Kollegen Donald Tusk an der Absturzstelle. Auch ließ es sich Putin nicht nehmen, dem Sarg mit dem Leichnam Kaczynskis persönlich das Geleit zur Überführung in die Heimat zu geben.

Medwedew trägt sich im Kondolenzbuch ein.
(Foto: dpa)
Präsident Dmitri Medwedew rief bereits kurz nach dem Unglück für Montag Staatstrauer aus. In Russland wehten die Fahnen auf Halbmast. In einer Fernsehansprache wandte er sich an das polnische Volk und veröffentlichte seine Rede im Internet auf Polnisch. "Mit tiefem und aufrichtigem Mitgefühl habe ich, wie alle Bürger Russlands, die Nachricht von dieser schrecklichen Tragödie aufgenommen."
Das russische Fernsehen wiederholte zur besten Sendezeit im Hauptprogramm einen in Russland lange verbotenen Film des polnischen Filmemachers Andrzej Wajda über Katyn und verzichtete auf Werbung und Unterhaltung. Anwohner legten an der Unglücksstelle Blumen nieder. "Es ist eine Tragödie für Polen, es ist eine Tragödie für alle Länder", sagte eine junge Frau. Auf dem Auto eines polnischen Fernseh-Teams lag eine rote Nelke. "Wir sind bei euch", schreibt die regierungskritische Zeitung "Nowaja Gaseta" auf Polnisch. Tausende Russen, die selbst lange nicht wussten, wofür Katyn steht, trugen sich in das Kondolenzbuch in der polnischen Botschaft in Moskau ein.
Viele russische Zeitungen erschienen am Montag mit schwarzem Rand als Zeichen der Trauer. Prominent präsentierten Medien, wie Putin den polnischen Regierungschef Donald Tusk in die Arme nahm. Das Bild der beiden Männer brachte die Moskauer Zeitung "Kommersant" auf der Titelseite - als Symbol und Chance für eine polnisch-russische Versöhnung.
"Positive Auswirkungen"

Deutsche und alliierte Offiziere im Mai 1943 bei einem Massengrab in Katyn.
(Foto: AP)
"Dieses sanfte, liebenswürdige Vorgehen haben wir nicht erwartet", sagt der Kaczynski-Vertraute und stellvertretende Chef des polnischen Nationalen Sicherheitsdienstes, Witold Waszczykowski. "Natürlich wird das positive Auswirkungen auf das Verhältnis unserer beiden Länder haben." Auch Polens Botschafter in Moskau ist voll des Lobes. "Wir können die russische Solidarität bei jedem Schritt spüren", sagte Jerzy Bahr im Fernsehen. Und sogar so mancher eingefleischte Russland-Skeptiker in Polen muss nun eingestehen, dass sich das Nachbarland diesmal ganz vernünftig verhält.
Schon bei den Feiern mit Tusk am vergangenen Mittwoch hatte Putin bei vielen Polen tiefen Eindruck hinterlassen, als er ihren Schmerz über Katyn anerkannte. Klar hatte Putin die Verbrechen des Totalitarismus und Stalins verdammt, auch wenn das Wort "Entschuldigung" noch nicht über seine Lippen kam.
Umdenken in Moskau
Viele Beobachter rechnen nun mit einer Beschleunigung der politischen und wirtschaftlichen Annäherung. Putin und Medwedew wollten den Impuls zur Versöhnung nutzen, der von dem gemeinsamen Gedenken ausgehe. Allerdings hat dies offenbar weniger mit dem Tod Kaczynskis zu tun als mit einem Umdenken Russlands gegenüber seinem einstigen Satellitenstaat.
"Russland hat offenbar vor einiger Zeit entschieden, dass es zu schwierig ist, Polen im Umgang mit der Europäischen Union oder mit Deutschland zu übergehen", sagt Eugeniusz Smolar vom polnischen Zentrum für Internationale Beziehungen. Die Regierung in Moskau werde deshalb nicht aufhören, sich gegen die von Polen unterstützte US-Raketenabwehr oder eine weitere NATO-Erweiterung nach Osten zu wenden. Aber Russland sei zur Einsicht gelangt, dass Polen ein wichtiges Land sei und entsprechend behandelt werden müsse.
Vielleicht wird sich Russland in Zukunft sogar zu einem Wort der Entschuldigung für die Massaker von Katyn durchringen können. Das wäre ein weiterer Meilenstein für eine tatsächliche Aussöhnung.
Quelle: ntv.de, mit dpa/rts