"Bettelkinder" Senegals Koranschüler
20.03.2009, 11:15 UhrHelle Kinderstimmen klingen durch den winzigen Klassenraum. Im Chor rezitieren die sechs- bis zehnjährigen Schüler einer Daara, einer traditionellen Koranschule in der senegalesischen Hauptstadt Dakar, Koranverse. In einem zweiten, kleineren Klassenraum lernen auch Mädchen. Teils schüchtern, teils verschmitzt lächeln sie unter dem Kopftuch hervor, während sie sorgfältig Verse auf ihre hölzernen Tafeln kopieren. Lesen können die Kinder die arabischen Buchstaben nicht.
Die Daara von Cheikh Tidiane Talla, einem Marabout (Korangelehrten) in dritter Generation, ist in mancher Hinsicht eine Ausnahme: Der Lehrer nimmt auch Mädchen an seiner Schule auf, allerdings handelt es sich ausschließlich um Kinder, die in der Nachbarschaft bei ihren Familien leben. Ein Teil der Schüler besucht nicht ausschließlich die Koranschule, sondern außerdem öffentliche Schulen. Dort lernen die Kinder - gegen Schulgeld - Lesen, Schreiben oder Französisch.
Koranschulen auch ohne Schulgeld
Doch der Großteil der Talibs, der Koranschüler in Senegal und anderen westafrikanischen Staaten, sieht nie eine öffentliche Schule von innen. Vor allem für Kinder der armen Landbevölkerung sind die Daaras die einzige Bildungseinrichtung. Denn auch wenn die Eltern kein Schulgeld aufbringen können, ist der Marabout verpflichtet, die Kinder als Schüler aufzunehmen und häufig nicht nur zu unterrichten, sondern auch zu verpflegen und im eigenen Haushalt unterzubringen. Genau das aber führt zunehmend zu sozialen Problemen.
"Wir haben in den vergangenen Jahren zunehmend festgestellt, dass ein Großteil bettelnder Straßenkinder eigentlich Talibs sind", sagt Jean Marie Couliby von der Kinderschutzorganisation Enda. "Viele Marabouts schicken die Kinder betteln oder arbeiten, um den Unterhalt der Schule zu finanzieren." Am Ende der Schulzeit ist die Zukunft der Jugendlichen alles andere als rosig: Sie können zwar den Koran auswendig, aber in der Regel nicht einmal Lesen und Schreiben.
Eine Studie der Caritas über die Situation in mehreren westafrikanischen Städten kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Kinderarbeit, völlig unzureichende hygienische Verhältnisse und das beengte Leben in den Daaras, die nicht der staatlichen Schulaufsicht unterstehen, sei ein Problem. Die Gefahr einer Radikalisierung der Schüler ein anderes.
Schüler müssen betteln gehen
"Ich sehe keinen Widerspruch zwischen dem Koran und einer modernen Erziehung mit Französischunterricht", versichert Cheikh Talla. Auch Serigne Moussa Sow, Leiter einer Koranschule in St. Louis, schickt seine eigenen Kinder auf das Gymnasium und erteilt ihnen nebenher Koranunterricht. In der Nachbarschaft hat er erfolgreich an die Frauen der Umgebung appelliert, Kinder bei sich aufzunehmen. Dank der Spenden ehemaliger Schüler müssen seine Schützlinge nicht betteln. Mit einer "Dependance" in seinem etwa 60 Kilometer entfernten Heimatdorf ermöglicht er den Schülern zudem, weiter in ihren Familien zu leben.
Denn Heimweh ist für viele Schüler schwerer zu ertragen als Armut, Hunger und Enge. "Ich vermisse meine Mama und meinen kleinen Bruder", sagt etwa der achtjährige Talibe Sayedu. In dem halbdunklen Klassenraum kauern etwa 40 Kinder auf Strohmatten, viele von ihnen verdreckt und mit zerrissener Kleidung. Ihre wenigen Habseligkeiten hängen an rostigen Nägeln - in dem muffig riechenden Raum lernen, schlafen und essen die Schüler.
Seydou Sall hat diese Daara in einem kleinen Haus in der Altstadt von St. Louis eingerichtet - strategisch günstig zwischen zwei Souvenirläden gelegen. Dass er seine Schüler betteln schickt, bestreitet der im Gegensatz zu seinen Schützlingen wohlgenährte Marabout. Nur wenige Stunden nach dem Schulbesuch sind aber zahlreiche der zerlumpten Jungen auf den Straßen der Altstadt zu sehen - mit ausgestreckter Blechbüchse und der Bitte um ein paar Franc.
Eva Krafczyk, dpa
Quelle: ntv.de