Dossier

Schüler über Schulgewalt "So kann es nicht weitergehen"

Im Berliner Bezirk Neukölln ist es in den vergangenen zwei Jahren zu 53 "schwerwiegenden Gewaltvorfällen" gekommen, sagt Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky. Mit Beginn des neuen Schuljahres sollen private Wachdienste eingesetzt werden.

n-tv.de: Herr Hielscher, wie gefährlich ist es, Schüler in Berlin zu sein?

Lee Hielscher: Das kommt auf das Umfeld an. Gewalt an Schulen ist oft Folge einer Unverstandenheit der Jugendlichen, die diese nicht anders kompensieren können. Es gibt Ecken in Berlin, wo es nicht ungefährlich ist, Gegenden, in denen Gewaltprobleme häufiger vorkommen.

Die klassischen sozialen Brennpunkte.

Ja, aber nicht nur. Psychische Gewalt gibt es überall, auch in Schulen am Stadtrand, bei denen man denkt, hier ist ja alles ganz ruhig, hier ist nichts los. Trotzdem gibt es dort psychische Gewalt, Mobbing unter Schülern und unter Lehrern. Da haben wir ein massives Problem.

Sie meinen Lehrer untereinander?

Ja, das kommt häufig vor.

Woran liegt das?

Es hängt sicherlich mit dem Druck und dem Stress zusammen: Alles muss schnell gehen, der Unterricht ist nur noch auf Leistung ausgerichtet. Zugleich fehlt es am gemeinschaftlichen Miteinander, an gemeinsamen sozialen Aktivitäten. Sachen wie Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag fallen weg, weil die Lehrer mehr Stunden leisten müssen. Das ist besonders problematisch für Jugendliche, die aus Familien kommen, wo sie ohnehin nur wenig Gemeinschaftsgefühl erfahren. Das kann die Schule nicht mehr abfedern.

Der Philologenverband meint, es gebe so gut wie keine weiterführende Schule, an der Internet-Mobbing gegen Lehrer nicht bekannt ist.

Das kann ich mir vorstellen. So, wie das System jetzt ist, wird das sicherlich nicht besser werden.

Was müsste sich ändern?

Lehrer müssen entlastet und das Miteinander an den Schulen muss gefördert werden. Auf Lehrer wird viel zu viel organisatorischer Kram abgewälzt: Schulevaluationen, Vergleichsarbeiten und ähnliches, all die Aufgaben, die keinen pädagogischen Inhalt haben, die von den Schulämtern aber nicht mehr übernommen werden, weil auch dort Stellen gekürzt werden. Die Folge ist Frontalunterricht.

Frontalunterricht geht schneller.

Richtig, aber wir kommen nicht weiter, wenn alles nur auf Schnelligkeit und Leistungsdruck ausgerichtet ist. Die Schule darf nicht Teil der Ellenbogengesellschaft sein, sie braucht Freiräume, sie braucht die Möglichkeit, auf Probleme von einzelnen zu reagieren. Stattdessen werden die Stellen von Sozialarbeitern an Schulen gekürzt. Trotz Rütli müssen sich selbst Hauptschulen Sozialarbeiterstellen zum Teil erkämpfen. In anderen Schulen werden die Aufgaben von Sozialarbeitern auf die so genannten Vertrauenslehrer abgewälzt, die aber keinerlei Ausbildung dafür haben. Trotzdem habe ich viele Schulen erlebt, wo der Vertrauenslehrer jahrelang großartige Arbeit geleistet hat - ohne jede Unterstützung von der Schulleitung.

Ist die zentrale Rolle von Schulleitern nicht ohnehin ein Problem? Ein guter Schulleiter kann viel bewirken, aber ein schlechter kann noch mehr kaputtmachen?

Das stimmt total, das habe ich schon oft gesehen. Aber trotzdem kann man doch nicht immer nur sagen: Das liegt alles am Schulleiter. Man muss selbst die Initiative ergreifen.

Muss das Schulsystem verändert werden?

So wie es jetzt ist, kann es jedenfalls nicht weitergehen. Schulischer Erfolg hängt zu großen Teilen davon ab, aus welchem Elternhaus einer kommt. Wenn wir in der Schule keine Chancengleichheit garantieren können, müssen wir uns nicht wundern, wenn Schüler gewalttätig werden. Was wir brauchen sind Schulen, die auf Partnerschaftlichkeit basieren, in denen die Lehrer stärker die Rolle von Begleitern übernehmen, damit Schüler die Möglichkeit haben, sich selbst zu entwickeln - wie viele Pädagogen es seit Pestalozzi fordern. Montessori ist das beste Beispiel: Kindern wird eine Schulter angeboten, aber die Freiheit gelassen, zu machen was sie wollen.

In ein paar Jahren müssen Sie vielleicht eine Schule für Ihr eigenes Kind suchen. Auf was für eine Schule würden Sie Ihr Kind schicken?

Für mich wäre das soziale Miteinander an der Schule das entscheidende Kriterium.

Gibt es noch Schulen, denen Sie ein Kind anvertrauen würden?

Auf jeden Fall. Ich selber gehe auf eine tolle Schule, wo es ein starkes Miteinander gibt. Die liegt übrigens in Neukölln.

(Mit Lee Hielscher sprach Hubertus Volmer)

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen