U-Bahn-Anschläge in Moskau "Terroristen suchen weiche Ziele"
29.03.2010, 16:49 UhrDie zwei Anschläge in der Moskauer U-Bahn, bei denen zahlreiche Menschen ums Leben kamen, wurden nach Expertenmeinung von islamistischen Untergrundkämpferinnen aus dem Nordkaukasus verübt. Der Berliner Russlandforscher Hans-Henning Schröder weiß, dass in der von heftigen Kämpfen und Attentaten gezeichneten Region der Terror zum Alltag gehört: "Es gibt dort eine ganze Reihe von Gruppen, die bereit und in der Lage wären, solche Anschläge durchzuführen."

Präsident Dimitri Medwedew in der Krisensitzung nach den Anschlägen. Im Kreml wurde eine Schweigeminute abgehalten.
(Foto: picture alliance / dpa)
n-tv.de: In der Vergangenheit gab es mehrfach Anschläge in der Moskauer U-Bahn durch tschetschenische Islamisten aus dem Nordkaukasus, die bislang schwersten 2004. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Attentäter auch dieses Mal aus der Region kamen?
Hans-Henning Schröder: Es gibt im Prinzip zwei Milieus, aus denen Anschläge in den letzten Jahren verübt wurden. Das eine sind russische Rechtsextremisten, die beispielsweise bereits Anschläge auf Züge verübt haben. Das andere Milieu ist der Nordkaukasus. Wenn ich die bislang unbestätigten Berichte der russischen Medien lese, dass es sich um zwei Selbstmordattentäterinnen mit nordkaukasischem Hintergrund handele, halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die Anschläge aus diesem Milieu kommen. Seit 2004 hat sich der Untergrund im Nordkaukasus bei Attentaten und Terroranschlägen auf die eigene Region beschränkt und nicht wie früher Anschläge in Russland verübt. Das war zum Beispiel 2002 der Fall, als es eine Geiselnahme im Theater "Nordost" in Moskau gab, dann 2004 die Anschläge auf zwei Passagierflugzeuge, die von Moskau Richtung Süden gestartet waren. Ähnliches hat es nach 2004 nicht mehr gegeben. Dafür hat der Terrorismus aber in der Region selbst zugenommen. Die Gefahr, dass der Terror jetzt wieder in die Hauptstadt zurückschlägt, ist groß.
Wie stark und wie gefährlich schätzen Sie die Terrorzellen in Russland ein?
Im Nordkausasus, nicht nur in Tschetschenien, sondern auch in den Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien, herrscht ein Zustand, der sich an der Grenze zum Krieg befindet. Es gibt dort jeden Tag Anschläge, Überfälle, Feuergefechte und Sondereinsätze der Polizei. Die ganze Region ist in hohem Maße destabil. Daher gibt es dort eine ganze Reihe von Gruppen, die bereit und in der Lage wären, solche Anschläge durchzuführen.

Der Nordkaukasus. In Tschetschenien verlangen Gruppen die Abtrennung der Region von Russland, in den Nachbargebieten streiten Clans um die Vorherrschaft
Beim zweiten Anschlag des Jahres 2004 war die Attentäterin eine Frau. Auch jetzt haben zwei Frauen die Anschläge verübt. Spielen weibliche Terroristen eine besondere Rolle bei den russischen Extremisten?
Es gab das Phänomen der sogenannten "schwarzen Witwen" – so werden sie in Russland genannt. Das sind Selbstmordattentäterinnen, die ausgebildet werden, um Anschläge zu verüben. Die „schwarzen Witwen“ gehören in den Kontext des islamisch motivierten Widerstandes gegen den russischen Staat. Das hat in den letzten Jahren keine Rolle gespielt, da in Russland keine Anschläge verübt wurden. Aber dieses neue Attentat erinnert daran, dass sowohl bei den Flugzeug-Abstürzen 2004 als auch bei dem Anschlag auf das Theater "Nordost" Frauen beteiligt waren.
Geht es den Attentätern um eine unabhängige Nordkaukasus-Region oder gibt es noch andere Motive?
Im Nordkaukasus herrscht eine komplizierte Gemengelage von Motiven. Es gibt dort politisch motivierte Gruppen, die im Fall Tschetschenien eine Abtrennung der Region von Russland wollen. Es gibt aber auch Clan-Kämpfe, zum Beispiel in Inguschetien und Dagistan, in denen sich ein Clan dagegen wehrt, dass sich in der Region ein anderer durchsetzen will. Zudem gibt es Gruppen, die islamistisch motiviert sind und auch Verbindungen über die Grenzen hinweg haben, die auch woanders ausgebildet wurden. Und schließlich gibt es dort auch schlichte Kriminalität. Diese Faktoren vermischen sich im Nordkaukasus in extremer Weise. Es ist vorstellbar, dass Gruppen, die versuchen, gegen die Russen vorzugehen, den Terror nach Moskau tragen, weil sie glauben, die taktische Situation ist dort günstiger und der Effekt "spektakulärer". Da wir die Täter aber noch nicht kennen, können wir auch noch nichts Konkretes über die Motive sagen.

Bei den Anschlägen in zwei Moskauer U-Bahnen sind mindestens 37 Menschen getötet und über 70 verletzt worden.
(Foto: REUTERS)
Was könnten die Gründe dafür sein, dass der Anschlag jetzt verübt wurde?
Das ist schwer zu sagen, solange wir nicht genau wissen, wer diese Anschläge verübt hat. Denkbar wäre es, dass der zunehmende militärische Druck, der in Russland auf die Untergrundkämpfer ausgeübt wird, dazu führt, dass sie ausweichen und „weiche Ziele“ suchen. Städte wie Moskau oder St. Petersburg sind solche „weichen Ziele“.
Wie beurteilen Sie die generelle Kaukasus-Politik des Kremls?
Die Politik im Nordkaukasus hat sich vor einiger Zeit deutlich geändert. Das Grundproblem, und so wird es auch von Leuten wie Vladimir Putin oder Dimitri Medwedew analysiert, ist, dass die ganze Region sozial und ökonomisch sehr schlecht aufgestellt ist. Man muss alles dafür tun, die Situation dort zu verbessern, um den Untergrund für den Terror auszutrocknen. Vorher werden nämlich keine Investoren in die Region gehen. Deswegen gibt es seit einiger Zeit eine Politik Moskaus, die versucht, die Situation zu verbessern. Das spektakulärste dabei war die Schaffung eines neuen nordkaukasischen Föderalbezirks an dessen Spitze man keinen "Sicherheitsmann" gesetzt hat, sondern einen sehr erfolgreichen Manager, Aleksandr Chloponin, der lange Zeit eine große Region in Sibirien sehr erfolgreich verwaltet hat. Da er aber erst seit wenigen Monaten im Amt ist, kann man noch keine Schlüsse über die Wirkung ziehen.
Die Regierung führt im Nordkaukasus eine konsequente Jagd nach Extremisten, so genannten "Banditen", durch. Im vergangenen Jahr wurden über 200 Aufständische getötet. Wie beurteilen sie das?

Prof. Dr. Hans-Henning Schröder ist Leiter der Forschungsgruppe Russland/ GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) - Deutsches Institut fuer Internationale Politik und Sicherheit.
Im Prinzip gibt es, und das sehen sie überall, zwei Taktiken die miteinander verbunden sind. Die eine ist die Schaffung eines Umfeldes, das Wohlstand und soziale Sicherheit beinhaltet und damit Leute davon abhält, in den Terrorismus abzugleiten. Die andere Taktik ist, die Gruppen, die man nicht versöhnen oder integrieren kann, zu vernichten. Die Russen haben in Tschetschenien den Krieg "tschetschenisiert" und die Verantwortung in die Hand eines der großen Clans, nämlich Kadirow, gegeben. Der ist zum Teil sehr erfolgreich gegen die Untergrundkämpfer vorgegangen, allerdings auch gegen Clans, die auf Moskauer Seite sind. Das ging bis zu Ermordungen von Anhängern dieser Clans in Moskau und im Ausland. Ich glaube nicht, dass diese Clanherrschaft in absehbarer Zeit unter Kontrolle kommt. Aber ich glaube auch nicht, dass der unmittelbare Auslöser für die aktuellen Anschläge das verschärfte Vorgehen der Russen bei der Terrorbekämpfung ist. So gehen die Russen nämlich schon seit zehn Jahren vor.
Mit Hans-Henning Schröder sprach Robert Meyer
Quelle: ntv.de