Dossier

"Wir stehen am Scheideweg" Ungewissheit auf dem Volkskongress

Wen Jiabao legt den Rechenschaftsbericht vor.

Wen Jiabao legt den Rechenschaftsbericht vor.

(Foto: picture alliance / dpa)

Machtwechsel, Wirtschaftskrise, internationale Verantwortung: Das Land der Mitte kämpft gleich an drei Fronten gegen Unsicherheit und bietet reichlich Stoff für den Volkskongress.

Gleich an drei Fronten herrscht in China große Unsicherheit: Innenpolitisch läuft ein Machtwechsel, der in zwei Jahren eine neue Führungsgeneration an die Spitze bringen wird, aber schon heute für Nervosität im System sorgt. Wirtschaftlich ist die globale Krise in China noch nicht überwunden und hat neue Probleme geschaffen. Und außenpolitisch sieht sich China unverhofft auf die Weltbühne katapultiert, ohne willens oder in der Lage zu sein, größere internationale Verantwortung zu übernehmen. "Wir stehen am Scheideweg", sagt eine Quelle mit Zugang in höchste Regierungszirkel, die namentlich nicht genannt werden will. "Ob wir es wollen oder nicht, wir waren nie zuvor so eng mit dem Rest der Welt verbunden."

So prägt Ungewissheit die diesjährige Jahrestagung des Volkskongresses in Peking. Zum Auftakt wird Regierungschef Wen Jiabao in seinem Rechenschaftsbericht als Ziele voraussichtlich acht Prozent Wachstum und eine Eindämmung der exzessiven Kreditvergabe zur Ankurbelung der Wirtschaft vorgeben. Trotz Weltwirtschaftskrise hat China im vergangenen Jahr sogar 8,7 Prozent Wachstum erreicht. So beeindruckend diese Zahlen sind, verstellen sie doch den Blick dafür, dass das Konjunkturprogramm eher ein Strohfeuer ist und die nötigen Umstrukturierungen ausbleiben.

Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich

Die wachsende Kluft der Einkommen, der starke Anstieg der Immobilienpreise, aufgeblähte Aktienmärkte, zunehmende Inflation und ein befürchteter Berg fauler Kredite sind die aktuellen Probleme, die die knapp 3000 Delegierten des Parlaments umtreiben. Nie zuvor in 30 Jahren Reform- und Öffnungspolitik klafften die Einkommen so weit auseinander wie heute: Pro Kopf verdienen Städter mehr als dreimal so viel wie Menschen auf dem Lande. Die "erschreckenden Unterschiede" zwischen Reich und Arm werden noch zunehmen, sagen Experten voraus.

Eine Lösung wäre die Aufhebung der strengen Wohnortregistrierung. Dieses Hukou-System bindet soziale Leistungen und selbst den Schulbesuch der Kinder an den Heimatort. Eine Anmeldung woanders ist fast unmöglich. Dabei sind die rund 150 Millionen Wanderarbeiter das Rückgrat der Wirtschaft. In einem für Chinas staatlich kontrollierte Presse ungewöhnlichen Schritt brachte ein Dutzend Zeitungen am 1. März einen gleichlautenden Kommentar, der dringend einen Zeitplan für die Abschaffung des Hukou-Systems einforderte: "Schlechte Politik, die nicht zu diesen Zeiten passt, empört die Menschen."

Politisches System offen in Frage gestellt

Größere Mobilität, stärkere Urbanisierung, höhere Einkommen und geringere soziale Lasten könnten Vitalität in Chinas Volkswirtschaft bringen, sagen Experten. Nur auf diesem Wege könne China die heimische Nachfrage ankurbeln, um seine fatale Abhängigkeit vom Export zu verringern. Die nötigen Umwälzungen können aber kaum von diesen Zeiten politischer Ungewissheit erwartet werden. Es herrsche Anspannung und Verunsicherung, stellen Diplomaten und Geschäftsleute fest. Hinter den Kulissen formieren sich neue Seilschaften, ringen mächtige Interessengruppen um ihren künftigen Einfluss, während Vizepräsident Xi Jinping und Vizepremier Li Keqiang als neue Führer von Partei, Staat und Regierung für 2012 und 2013 vorbereitet werden.

Offener als sonst wird infrage gestellt, ob das politische System noch zeitgemäß ist. "Die Regierung selbst, ihre Kumpanen, und die staatlichen Unternehmen formieren schnell starke und exklusive Interessengruppen", analysiert Yang Yao, Vize-Dekan der Nationalen Schule für Entwicklung an der Peking Universität, in einem Aufsatz für das US-Magazin "Foreign Affairs". Lokale Regierungen fungierten wie Unternehmen, verfolgten nur ihren Profit, statt - wie in fortschrittlichen Demokratien - Einkommen zu verteilen und das Wohlergehen ihrer Bürger zu verbessern.

Warnung vor einer "neuen Krise"

Zwangsenteignungen, Internetzensur, die Unterdrückung von Gewerkschaften, lange Arbeitstage und unsichere Arbeitsbedingungen sorgten für Unzufriedenheit und Widerstand im Volk, warnt der Professor vor einer "neuen Krise". Eine stärkere Teilnahme der Bürger an politischen Prozessen sei notwendig. Die Regierung müsse demokratische Institutionen schaffen, "um die allermächtigsten Gruppen in Schach zu halten". "Aber letztendlich gibt es keine Alternative zu einer größeren Demokratisierung, wenn die Kommunistische Partei wirtschaftliches Wachstum ermutigen und soziale Stabilität wahren will", fasst der Professor am Ende zusammen.

Quelle: ntv.de, Andreas Landwehr, dpa

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