"So geht es nicht weiter" Westerwelle enttäuscht seine Kritiker
17.02.2010, 15:10 Uhr"Das Volk will die Wahrheit hören", ruft Guido Westerwelle in Straubing. Der FDP-Chef liefert eine fulminante Verteidigungsrede. Und skizziert nebenbei das liberale Programm: Ohne Leistungsbereitschaft "wird es keinerlei soziale Gerechtigkeit in dieser Republik mehr geben".
Eigentlich müsste FDP-Chef Guido Westerwelle in der Defensive sein. Seine schrillen Sprüche über geistigen Sozialismus und spätrömische Dekadenz werden nicht nur von der Opposition, sondern auch vom Koalitionspartner genüsslich zerpflückt. In den Umfragen sind er selbst und seine Partei im Sinkflug. Bei nur noch sieben Prozent sieht Forsa die FDP derzeit. Vom Hochgefühl der Bundestagswahl, als die Liberalen das Rekordergebnis von 14,6 Prozent erzielten, ist das weit entfernt.
Doch von Demut keine Spur. Die FDP begeht den politischen Großkampftag nicht mehr in einem Lokal in Passau, sondern in der Stadthalle von Straubing. Und Westerwelle macht alles richtig. Er greift seine Kritiker an - aber nicht zu scharf. Er beharrt auf seinem Standpunkt - aber ohne weitere Polemik. Wer weitere spätrömische Vergleiche erwartet hatte, wird enttäuscht.
"Ich spreche nur aus, was in Wahrheit alle Politiker wissen, aber sie trauen es sich nicht auszusprechen, weil sie glauben, das Volk verträgt nicht die Wahrheit. Das Volk will die Wahrheit hören und nicht betuppt und beschummelt werden!" Das ist der Kerngedanke seiner Rede.
Die Eiswanderung klappt
Wer von "Volk" und "Wahrheit" spricht, läuft auf dünnem Eis. Der schleswig-holsteinische SPD-Landeschef Ralf Stegner hatte Westerwelle kürzlich den "Jörg Haider der deutschen Politik" genannt. Spätestens seit dem Streit um den damaligen FDP-Vize Jürgen Möllemann im Bundestagswahlkampf 2002 weiß Westerwelle, dass die FDP als rein populistisches Projekt nicht funktioniert.
Die Eiswanderung klappt problemlos. Westerwelle kommt gleich zur Sache. "Wenn sich Leistungsbereitschaft nicht mehr lohnt, dann wird es keinerlei soziale Gerechtigkeit in dieser Republik mehr geben", ruft er dem Publikum in der Joseph-von-Fraunhofer-Halle zu. Den Vorwurf, "ich würde im brauen Sumpf fischen", weist er scharf zurück: "Man muss schon wirklich linksextremistisch in der Birne sein, wenn Leistungsgerechtigkeit als rechtsradikal gilt."
Auf den beleidigten Gestus des einsamen Rufers in der Wüste verzichtet Westerwelle an diesem Tag ebenso wie auf die übertriebene Selbstzufriedenheit des Wahlsiegers. "Es kann so nicht weitergehen." Auch wer dies anders sieht, wird zugeben müssen, dass Westerwelle den Ton trifft. Ein paar Witze gibt es auch, beim Schimpfen über die Abwrackprämie fällt er in rheinischen Singsang. Und der Begriff "Steuergeschenk" erinnert Westerwelle "an Ludwig XIV. und die gepuderte Perücke. Um nicht weitere spätrömische Vergleiche hier einzuführen." Gelächter.
Mittelschicht "mit Träumen, mit Ängsten"
Westerwelle lässt keinen Zweifel: Er will eine andere Republik, er meint es ernst mit der "geistig-politischen Wende", die er Anfang des Jahres ausgerufen hatte. In Straubing ruft er: "Da passiert etwas in unserer Republik seit elf Jahren." Die Mittelschicht schrumpfe. Mittelschicht? Laut Westerwelle sind das Menschen mit "kleinen, mittleren Einkommen", "mit Träumen, mit Ängsten".
Und um diese Ängste soll die FDP sich kümmern. Denn wenn die Mittelschicht schrumpfe, sei das "brandgefährlich für die Gesellschaft". Westerwelles Rede ist eine fulminante Rechtfertigung gegen den Vorwurf der Klientelpolitik. Am besten gelingt ihm das in den Passagen, die nicht ausdrücklich auf diese Vorwürfe eingehen. Hier kommt die Leistungsgerechtigkeit ins Spiel, ein altes liberales Konzept. "Ich will nicht leben in einer Gesellschaft, die nur noch besteht aus Reich und aus Arm", verkündet der Vizekanzler.
Westerwelle spricht frei, nur seine "sieben Kerngedanken" für einen Neuanfang in der Sozialpolitik liest er vor - auch das geschickt inszeniert. "Der Sozialstaat ist für die Bedürftigen da, für die zahlen wir auch gerne Steuern", betont er. "Er ist nicht für die Findigen da, die es vorziehen, nicht zu arbeiten." Steuersenkungen sind für Westerwelle eine Frage der Gerechtigkeit. "Alles was man am Ende eines Lebens vererben möchte, ist doch mindestens schon 540 Mal versteuert worden in dieser Republik", ruft er unter dem Beifall seines Publikums.
Applaus gibt es auch für Westerwelles Plädoyer für das gegliederte Schulsystem, gegen die rot-rote Bildungspolitik in Berlin und die schwarz-grüne Schulreform in Hamburg, denn am Gymnasium hält die FDP eisern fest. So viel Klientelpolitik muss offenbar sein. Und doch hat Westerwelle demonstriert, dass FDP-Politik auch ohne polemische Ausfälle funktionieren kann. Dabei sollte es bleiben.
Quelle: ntv.de