Dummes Zeug aus Italien Der "Große Bluff" von Giorgia Meloni
21.09.2023, 15:32 Uhr Artikel anhören
Meloni und von der Leyen am Sonntag auf Lampedusa.
(Foto: IMAGO/ZUMA Press)
Die italienische Regierung zündet eine migrationspolitische Nebelkerze nach der anderen: Sie kündigt Maßnahmen an, die nicht kommen werden oder nichts ändern. Das Motto lautet: Propaganda statt Anpacken.
Zugegeben: Der Titel ist geklaut, Hollywood hat den "Großen Bluff" schon mehrfach verfilmt. Die italienische Ministerpräsidentin - Entschuldigung; sie will ja nicht als "la Presidente" angesprochen werden, sondern als "il Presidente", sagen wir es also wie gewünscht: "der" italienische Ministerpräsident Giorgia Meloni hat die Welt um eine neue Variante des Großen Bluffs bereichert.
In den Tagen der Massenankünfte auf Lampedusa zeichnete Frau Meloni einen eindringlichen Video-Appell auf, gerichtet an die Menschen in den Herkunftsländern: "Kommt nicht, ihr werdet alle 18 Monate in Abschiebehaft enden und dann wieder zurückmüssen." Ihr Transportminister Matteo Salvini von der Lega bereicherte die Debatte um die Drohung mit einer "Schiffsblockade".
Leider hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Gelegenheit ihres Lampedusa-Schnellbesuches - neun Minuten im Aufnahme-Camp - nicht genutzt, um der italienischen Regierungschefin die Leviten zu lesen. Der Grund für die freundliche Zurückhaltung ist leicht erraten. Beide waren erst zwei Monate zuvor beim tunesischen Regierungschef Kais Saied gewesen und hatten ihm 250 Millionen Euro Soforthilfe und Beistand bei der Weltbank für einen Kredit über eine Milliarde Euro versprochen. Im Tausch dafür sollte Tunesien die Abfahrten der Flüchtlingsboote verhindern. Es passierte das reine Gegenteil. Nach der Zeremonie in Tunis verdreifachten sich die Abfahrten - alle aus Sfax, Tag und Nacht, unter den Augen des Regimes. Wir dürfen vermuten: Der tunesische Rais will den Preis hochtreiben.
Der nächste Deal wird deutlich teurer
Von Meloni und von der Leyen gab es auf Lampedusa kein kritisches Wort dazu, von Saied geleimt worden zu sein. Das wird ihn gefreut haben, der nächste Deal wird also deutlich teurer. Ein Deal mit einem Machthaber, der Flüchtlinge auch schon mal in die Wüste zurückschickte.
Stattdessen wurde ellenlang der Kampf gegen die Schleuser zum Thema gemacht. Dummtüch, sagt man dazu an der Küste - dummes Zeug. Von den Flüchtlingen wissen wir, dass sie sich Boote und Außenborder selbst organisiert haben, für viele war die Überfahrt quasi gratis. Nach Tunesien flohen in den letzten Monaten zehntausende Menschen aus Kriegsgebieten, vor Dürre, Hunger und Vergewaltigungen marodierender Banden. Was derzeit in vielen Staaten Afrikas los ist, sollten auch Meloni und von der Leyen wissen: Es ist eine fast immer selbstorganisierte Flucht, die zahlreiche Stationen hat, viele Monate dauert. Da steckt kein großer Plan eines fantomatischen Weltverbrechers dahinter, um Italiens Bevölkerung zu ersetzen - rechtsextreme Komplottfantasien, die auch Regierungsvertreter in Rom weitererzählen. Die "Schlepper", die in Italien festgenommen werden, sind meist selber Flüchtlinge, denen man das Ruder anvertraut hat, im Tausch gegen eine Gratis-Überfahrt.
Die europäische Grenzschutzagentur Frontex solle eingreifen, sagte von der Leyen auch. Doch was kann Frontex leisten, wenn die italienischen Behörden die Meldungen über ankommende Migrantenboote, wie das vom Schiffbruch am Strand von Cutro in Kalabrien, bei dem 94 Menschen ertranken, einfach ignorieren?
Tricksen, Mogeln und Behumpsen
Und eine Schiffsblockade vor der Küste, wie von Lega-Chef Salvini gefordert? Das wäre ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht, Menschen- und Seerechtskonventionen. Rückweisungen auf offener See sind unvereinbar mit Menschenrecht und Seerettungskonventionen. Wenn Italien das wollte, müsste es vorher aus UN, EU und NATO austreten und alle Konventionen kündigen. Mit anderen Worten: ein Putin-Land werden. Patrouillen gäbe es nur zusammen mit den Anrainerstaaten, das sollte in Rom und Brüssel hinreichend bekannt sein. Wobei Tunesien keineswegs nur Transitland ist. 12.100 der 132.000 bis zum 20. September registrierten Ankömmlinge sind Tunesier, 8000 Ägypter, 13.000 kommen aus Pakistan und Bangladesch. Hat Rom mit diesen Ländern keine diplomatischen Beziehungen? Davon aber kein Wort.
Es kommt aber noch schlimmer: Aus der Abteilung "Tricksen, Mogeln und Behumpsen" stammen auch die an die Migranten gerichteten Drohungen von Frau Meloni, sie für 18 Monate einzusperren. Erstens, es gibt gar keine Auffang-/Abschiebe-Camps für die 132.000 Gelandeten. Die aktuell elf Abschiebelager haben Platz für knapp 1000 Personen und derzeit 600 Insassen, in ihrer Mehrzahl zur Ausreise verpflichtete Tunesier. Werden die zurückgenommen? Nein.
Hauptsache weg
Da Italien ein Rechtsstaat ist, gelten die Gesetze: Niemand darf in diesen Camps länger als 90 Tage festgehalten werden. Die 132.000 Flüchtlinge haben allesamt ein Recht auf rechtsstaatliche Prüfung ihres Status. Erst danach kann es Abschiebungen geben. 18 Monate einsperren, in Camps, die es noch gar nicht gibt? Reine Propaganda.
Die Frage ist: Was passiert mit den Flüchtlingen, die kein Aufenthaltsrecht erhalten? Da kommt der nächste Trick ins Spiel: Sie bekommen eine "Foglia di via", eine Abschiebeverfügung in die Hand gedrückt. Dann haben sie in der Regel 14 Tage, um das Land zu verlassen. Wohin, das ist Italien egal. Hauptsache weg. Bei der letzten großen Migrationswelle 2016 haben wir in Turin eine Gruppe solcher Flüchtlinge dazu befragt. Sie kamen fast alle aus Tunesien oder dem frankophonen Afrika. Die Behörden von Turin kauften ihnen Fahrkarte zum Ziel ihrer Wahl und weg waren sie. In den ersten sechs Monaten stellten 60.000 Migranten einen Asylantrag in Italien. In Deutschland waren es 204.000.
Als radikale Lösung geistert durch die sozialen Medien und die Bierzelte immer wieder Australien. Da gäbe es eine radikale Schiffsblockade. Richtig ist, dass in zwei australischen "Detention Camps", eines auf Papua Neu-Guinea und das andere auf Nauru, derzeit 3127 Personen festgehalten werden, denen die Regierung in Canberra den Status als Flüchtlinge verweigert. Eine "Masseninvasion" ist das nicht. Die Einwanderung nach Australien hat das übrigens nicht gestoppt, heute sind 23 Prozent aller Einwohner des fünften Kontinents Migranten, fast 8 Millionen Menschen.
Meloni und Salvini sehen die Schuld in Deutschland
Man sollte endlich die Realität anerkennen, statt Propaganda zu betreiben. Die großen Fluchtbewegungen nach Europa haben soziale, politische, klimatische Gründe, und die sollte man angehen: Terror-Regime im Süden, Hunger, Folgen auch der Klima-Katastrophen, wie im libyschen Derna, unfähige Regierungen in fast ganz Afrika.
Sagen wir uns doch ehrlich: Wenn bei uns in Europa solche Zustände herrschen würden, dann würden sicher auch hier viele Väter und Mütter ihre Kinder unter den Arm nehmen und sagen: Wir müssen hier weg, um unser Leben zu retten, auch wenn es gefährlich ist.
Wenn Meloni und Salvini sagen, das alles sei die Schuld Deutschlands und Frankreichs, dann haben sie nicht ganz unrecht, auch wenn die beiden es anders meinen: Paris und Berlin weigern sich jetzt, weitere Flüchtlinge freiwillig aus Italien zu übernehmen, weil Italien sich seinerseits weigert, einige wenige bereits in Italien als Asylsuchende registrierte Flüchtlinge (4000) entsprechend dem Dublin-Abkommen zurückzunehmen.
Propaganda statt Anpacken
Richtig ist aber auch: Frankreichs Schuld an Armut und Unterentwicklung, an kleptokratischen Regierungscliquen im ehemaligen französischen Kolonialreich ist enorm. Das anzuerkennen, zu überwinden, kann nur die Union gemeinsam, als Ganzes. Deutschlands Schuld besteht eher darin, nicht Tacheles mit Rom zu reden. Die Migrationsbewegungen sind ein Ergebnis der Zustände in Afrika, in Teilen der Welt. Das sollte man in Rom mal deutlich machen. Die Schuld Italiens an den Zuständen in Libyen ist bekannt. Also an die eigene Nase fassen, sollte das Motto sein.
Doch nicht alles im 10-Punkte-Plan von Frau von der Leyen kann weg. Europa braucht eine bestimmte Anzahl von Einwanderern, die auch integriert werden könnten - da tut Italien rein gar nichts, außer rassistischer Propaganda und hohlen Phrasen wie "selber mehr Kinder zeugen", wie die Mutter einer einzigen Tochter, Meloni, zu der Frau mit sieben Kindern sagte.
Europa könnte, das schlägt von der Leyen richtig vor, "humanitäre Korridore" für klar Asyl-Berechtigte schaffen. Menschen, die man auch direkt aus Tunesien oder Libyen holen könnte. Ebenso müsste die Europäische Union klare Kriterien für legale Einwanderung festlegen. Nur ob das mit dieser Regierung in Rom funktionieren kann, ist fraglich. Wo Italien doch nicht einmal seinen eigenen, inneritalienischen Rassismus überwunden hat. Süditaliener gelten im Norden oft noch als "Terroni", als Leute, "die vom Erdboden leben", Bauern, oder schlimmer noch als "Erdfresser".
Statt über Fluchtursachen zu reden, die endlich anzupacken, so schwer es auch ist, mit den Herkunftsländern ins Gespräch zu kommen, den Transitländern klare Grenzen zu setzen, so schwer das auch alles sein wird, greift man dann lieber in die Propaganda-Kiste: Blockieren, Einsperren, Rückführen. Dabei wird nichts von alldem wirklich geschehen, geschweige denn die Probleme lösen. Es ist und bleibt ein großer Bluff.
Quelle: ntv.de