Geflüchteten-Zahlen steigen Wäre eine "Obergrenze" für Zuwanderung machbar?


Europa oder Tod durch Ertrinken: Der Zustrom von Verzweifelten lässt nicht nach, so wie auf der italienischen Insel Lampedusa.
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Schneller als die Flüchtlingszahl steigen nur die Umfragewerte der AfD und jetzt ist auch noch Wahlkampf: Die Migrationspolitik ist mit Wucht zurück in der politischen Debatte, darunter auch die Idee einer "Obergrenze". Der Versuch einer Einordnung.
Viele Städte und Kommunen klagen seit Monaten über eine Überlastung. Auch die Lehrergewerkschaft GEW prangert an, dass mit den vorhandenen Lehrkräften und Räumlichkeiten auch ohne Zuzug kein vernünftiger Unterricht zu gewährleisten sei. Im Kontext der nahenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen sowie der Erfolge der AfD in Umfragen und Kommunalwahlen nimmt die Debatte über steigende Zuwanderungszahlen weiter Fahrt auf. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder setzt mit der "Integrationsgrenze" den Vorschlag von Horst Seehofer wieder auf die Tagesordnung: Söders Vorgänger als CSU-Chef und bis Herbst 2021 Bundesinnenminister hatte 2016 eine "Obergrenze" von 200.000 Geflüchteten pro Jahr in den Raum gestellt. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm, bekräftigte diese Forderung bereits im Januar dieses Jahres.
Woher stammt diese Zahl?
Seehofer hatte seine Forderung nach einer "Obergrenze" kurz vor der CSU-Klausurtagung Anfang Januar 2016 erhoben, als in Deutschland nach den Rekordflüchtlingszahlen 2015 eine intensive Debatte über die weitere Zuwanderungspolitik tobte. Der damalige bayerische Ministerpräsident begründete die Zahl mit persönlichen Eindrücken: "Aus den Erfahrungen der Vergangenheit kann ich sagen: In Deutschland haben wir keine Probleme mit dem Zuzug von 100.000 bis höchstens 200.000 Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen pro Jahr." Die Äußerung war damals auf breite Kritik gestoßen, auch innerhalb der von Bundeskanzlerin Angela Merkel geführten CDU. Die Kanzlerin verhinderte die Einführung eines solchen Limits, machte aber zugleich große Zugeständnisse an die CSU und die eigene Partei, als sie unter anderem mit dem EU-Türkei-Abkommen für eine deutliche Reduzierung der Flüchtlingszahlen eintrat.
Kann Deutschland auch mehr als 200.000 Flüchtlinge integrieren?
Ein objektives Limit ist nicht denkbar. Fast jeder fünfte Geflüchtete aus der Ukraine im erwerbsfähigen Alter hat binnen weniger Monate Arbeit in Deutschland gefunden. Von den Menschen, die 2015 nach Deutschland kamen, vornehmlich Syrer, haben heute 55 Prozent einen Job. Die Voraussetzungen für ihre Arbeitsmarkt-Integration war unterschiedlich: Viele Menschen, die 2015 gekommen sind, hatten lange Zeit keine Arbeitserlaubnis und keinen Zugang zu Sprachkursen. Die Ukrainer durften seit dem Frühjahr 2022 in Deutschland auch arbeiten. Kulturelle Nähe und leichter vergleichbare Bildungsabschlüsse dürften ebenfalls geholfen haben. Andere, messbare Kriterien wären die Kapazitäten von Schulen und Wohnraum: Der Lehrermangel bereitet im ganzen Land Probleme, Wohnungen sind vor allem in Städten knapp, insbesondere günstige Wohnungen für Familien. Beide Problemlagen werden durch die zusätzliche Nachfrage von Geflüchteten verschärft, gehen aber nicht auf den Migrationsdruck zurück.
Kann sich Deutschland die Flüchtlinge leisten?
Objektiv ist auch diese Frage nicht zu beantworten, aber Zahlen helfen, den Aufwand ins Verhältnis zu setzen. 2021 zahlten die Länder rund 4,3 Milliarden Euro für die Unterbringung und Versorgung von etwa 399.000 Geflüchteten, der Bund wandte hierfür 11,8 Milliarden auf sowie 9,6 Milliarden Euro für die Bekämpfung von Fluchtursachen. Hinzu kommen die Kosten für Geflüchtete mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus, die Bürgergeld beziehen, und Menschen aus der Ukraine, die ebenfalls Anspruch auf den vollen Bürgergeldsatz haben.
Von den 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Beziehern hatten im April dieses Jahres 1,8 Millionen keinen deutschen Pass. Darunter sind EU-Ausländer genauso wie Gastarbeiter früherer Generationen und Geflüchtete, die erst in den vergangenen Jahren gekommen sind. Aus den Zahlen geht zudem nicht hervor, wer von den Beziehern schon einmal gearbeitet hat. Ebenso ist der Ausländeranteil an den 1,6 Millionen nicht-erwerbsfähigen Bürgergeld-Beziehern unklar. Für das laufende Jahr kalkuliert der Bund mit Ausgaben von rund 24 Milliarden Euro für das Bürgergeld. Den Kosten gegenzurechnen wäre der volkswirtschaftliche Beitrag, den arbeitende Geflüchtete leisten. Generell gilt, dass Deutschlands Arbeitsmarkt dringend auf Zuwanderung angewiesen ist.
Wie viele Menschen kommen derzeit?
Die fluchtartige Zuwanderung nach Deutschland speist sich vor allem aus drei Ländern: Im ersten Halbjahr 2023 kamen von 150.166 Erstantragstellern auf Asyl 43.523 aus Syrien (29 Prozent) sowie 27.310 Menschen aus Afghanistan (18 Prozent). Der Anteil beider Herkunftsstaaten an den 217.774 Menschen, die im Gesamtjahr 2022 Asyl beantragt hatten, war ähnlich hoch. Nicht eingerechnet in diese Asyl-Statistik: die Geflüchteten aus der Ukraine. Deren Zahl war vom russischen Angriff Ende Februar 2022 bis zum August 2022 auf rund 1,1 Millionen hochgeschnellt und ist seither stabil auf diesem Niveau. Rechnet man die Ukrainer heraus, kommen in diesem Jahr deutlich mehr Geflüchtete nach Deutschland als im Vorjahr - und erst recht im Vergleich zu den Jahren 2020 und 2021, als die Pandemie wütete und in Afghanistan noch nicht die Taliban herrschten.
Wie gelangen die Menschen nach Deutschland?
Deutschland muss theoretisch - das besagt das sogenannte Dublin-Abkommen - keine Flüchtlinge aufnehmen, die in einem anderen Staat erstmals EU-Boden betreten haben. Viele Menschen versuchen deshalb, möglichst bis nach Deutschland durchzureisen, ohne in einem EU-Land aufgegriffen zu werden, in dem sie nicht bleiben wollen - und meist auch nicht erwünscht sind. So gelangen die Menschen in der Regel auf illegalem Weg nach Deutschland: Rund 92.000 illegale Grenzübertritte registrierte die Bundespolizei im gesamten vergangenen Jahr, im laufenden waren es bereits Ende Juli rund 56.000.
Weil in der EU Reisefreiheit herrscht, werden die allermeisten Pkw und Lkw im Grenzverkehr aber gar nicht kontrolliert, weshalb viele Asylsuchende unbehelligt über die EU-Nachbarstaaten kommen. Unverändert kommen die meisten Menschen über das Mittelmeer illegal nach Europa. Viele Menschen kommen über Italien nach Deutschland, mehr aber noch über die sogenannte Westbalkan-Route von Griechenland aus. Auch die Einreisen über Belarus und Polen haben in den vergangenen Jahren anteilig stark zugenommen.
Ist eine "Obergrenze" von 200.000 Migranten realistisch?
Gemessen an der Zahl der Asyl-Erstanträge ist Deutschland in sechs der letzten zehn Jahre unter der 200.000-Marke geblieben. Einzig in den Jahren 2015 und 2016 wurde der Wert mit 442.000 und 722.000 Erstanträgen deutlich gerissen. Im vergangenen Jahr waren es rund 218.000 Erstanträge und im laufenden Jahr steuert Deutschland auf etwa 300.000 zu, wenn sich der bisherige Trend unvermindert fortsetzt. Immerhin: Mit 200.000 Menschen nähme Deutschland immer noch alleine fast ein Viertel aller Menschen auf, die im vergangenen Jahr erstmals einen EU-Asylantrag in der EU gestellt haben (881.000 im Jahr 2022).
Mittelfristig könnte sich der Migrationsdruck in Folge global zunehmender Konflikte sowie den Auswirkungen des Klimawandels verschärfen. Andererseits weisen Migrationsforscher auch darauf hin, dass durch die weltweit immer resolutere Grenzziehung die Bewegungsfreiheit für Geflüchtete zunehmend eingeschränkt wird. Von dem schlecht einzumauernden Mittelmeer abgesehen, zieht auch Europa seine Grenzzäune höher und betreibt mehr Aufwand, um Migranten fernzuhalten. Aber immer dann, wenn viele Menschen auf einmal in Griechenland oder Italien landen, stellt sich die Frage nach Deutschlands Solidarität: Werden die Länder an der EU-Außengrenze nicht entlastet, winken diese gleich alle Migranten in den wohlhabenderen Norden Europas durch. An dieser Frage hat sich auch der jüngste Streit um Lampedusa entzündet.
Wie könnte die "Obergrenze" umgesetzt werden?
Im Frühstart von ntv präsentierte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, seine Vorstellungen: Demnach könnte die EU künftig im Regelfall Menschen zurückweisen, die über sichere Drittstaaten reisen - etwa Syrer und Afghanen, die die Türkei passieren, wo kein Krieg herrscht. Diese Menschen könnten dann nur noch im Rahmen einer Kontingentlösung den Weg nach Deutschland finden: über in einem Drittstaat gestellte Asylanträge. Frei betonte, auch im Fall einer Überschreitung des Kontingents anderen überlasteten EU-Staaten helfen zu wollen. Das klassische Asylrecht würde dennoch auf den Kopf gestellt: Bisher hat jeder Mensch, der Deutschland erreicht, das im Grundgesetz verbriefte Recht auf einen Asylantrag und dessen Prüfung. Ein fixer Wert wäre die Obergrenze sowieso nicht: Frei plädiert für eine nicht im Vorhinein begrenzte Aufnahme von Menschen, die aus einem direkten Nachbarstaat der EU fliehen müssen - so wie seit Februar 2022 die Ukrainerinnen und Ukrainer.
Ließe sich das Asylrecht reformieren?
Jein, weil der zugrunde liegende Artikel 16a zum Grundgesetz gehört, wenn auch nicht zu den sogenannten Ewigkeitsklauseln. Verfahren und Kriterien ließen sich gesetzgeberisch ändern, der Grundgesetz-Artikel nur mit einer Zweidrittelmehrheit. Hinzu kommt das Bundesverfassungsgericht: Aus der im Grundgesetz auf ewig verbrieften Unantastbarkeit der Würde des Menschen ergibt sich eine hohe Schutzanforderung für jeden Menschen, der Deutschland erreicht. Das Asylrecht und den Schutz vor kriegerischer Gewalt zu schleifen, ist nicht ohne Weiteres möglich. Zudem kann nicht im Gesetz unterschieden werden, um welche Herkunftsländer sich Deutschland kümmern möchte und um welche nicht. Auch die Unionsparteien scheuen vor diesem Hintergrund vor einer großen Asylrechtsreform bislang zurück. Hinzu kommt: Deutschland ist auch durch EU-Recht und die Genfer Flüchtlingskonvention gebunden. An beide halten sich zwar auch andere EU-Staaten nicht im Umgang mit Flüchtlingen. Diese aber weiter zu unterminieren, kann nicht Deutschlands Interesse sein.
Lockt Deutschland mit seinen Sozialleistungen Flüchtlinge an?
Die CSU sowie mehrere CDU-Landesverbände fordern mehr Sachleistungen anstelle von Geld für Menschen im Asylverfahren. Die Bundes-CDU plädiert zumindest für eine Angleichung der Sozialleistungen innerhalb der EU. Das Motiv: Besonders viele Flüchtlinge würden unter den EU-Staaten Deutschland als Ziel bevorzugen, weil sie hier am meisten Geld erhielten, um einen besseren Lebensstandard zu erreichen und auch Geld in die Heimat zu senden.
Was politisch populär ist und auf den ersten Moment plausibel erscheint, ist wissenschaftlich umstritten: Migrationsforscher verweisen darauf, dass sich keine isolierten Pull-(Zieh-)Faktoren identifizieren lassen. Demnach gibt es eine Vielzahl möglicher Motivationen und Überlegungen, die individuelle Fluchtentscheidung prägen. Einzig messbare Ausnahme: Menschen auf der Flucht gehen eher in Länder, wo sie schon Verwandte oder Bekannte gleicher oder ähnlicher Herkunft vorfinden. Dass aber Sachleistungen im Asylverfahren statt Bargeld abschreckend wirken, ist nicht erwiesen.
Was plant die Bundesregierung zur Begrenzung der Zuwanderung?
Auch die Ampelkoalition will die Zahl der Zuwanderer reduzieren, die nicht als EU-Ausländer oder angeworbene Fachkräfte ins Land kommen. Dabei verfolgt sie drei Ansätze: Erstens soll die Liste sicherer Herkunftsstaaten um Moldau und Georgien erweitert werden. Tunesien auf diese Liste zu setzen, ist in der Koalition umstritten. CDU-Chef Friedrich Merz fordert, auch Marokko, Algerien und Indien einzubeziehen. Wer aus diesen "sicheren" Ländern kommt, hat dann praktisch keine Chance auf Asyl. Doch auch zusammengerechnet machen diese Herkunftsländer nur einen kleinen Teil aller Antragsteller aus. Aus diesen sechs Ländern stammten im vergangenen Jahr 15.000 von insgesamt 217.000 Erstanträgen auf Asyl. Zweitens sollen die Bundesländer konsequenter Ausländer ohne Aufenthaltsrecht abschieben, was in der Praxis aber oft an der Aufnahmebereitschaft der Herkunftsländer scheitert, weshalb die Bundesregierung bilaterale Rückführungsvereinbarungen vorantreibt, für die die aufnehmenden Länder aber meist Geld oder andere Zugeständnisse sehen wollen. Drittens kündigte Bundesinnenministerin Nancy Faeser an, stärker gegen Schleuser vorgehen zu wollen.
Was bringt die EU-Asylreform?
Erst einmal gar nichts, weil der von den Länderregierungen vereinbarte Deal noch durchs EU-Parlament und dann von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Doch in den Nationalstaaten gehen die Meinungen weit auseinander: Polen etwa lehnt weiter die verpflichtende Aufnahme von Flüchtlingen oder Strafzahlungen bei Nicht-Aufnahme ab, während die Grünen in der Bundesregierung auf humanere Regeln pochen.
Wenn der Deal aber so käme, wäre die größte Neuerung, dass Ausländer mit geringen Aussichten auf Bleiberecht Schnellverfahren in Lagern an den EU-Außengrenzen durchlaufen sollen. Dass dann auch Kinder über Monate in Lager gesperrt werden könnten, empört zahlreiche Menschenrechtsorganisationen. Zudem sieht der Kompromiss einen Einstieg in einen verpflichtenden Umverteilungsmechanismus vor, sodass langfristig alle EU-Länder Geflüchtete aufnehmen. Wer sich am Ende in welchem Umfang beteiligt, ist aber genauso unklar wie die künftige Rücknahme nach dem Dublin-Verfahren - also, ob etwa Griechenland oder Italien Menschen aus Deutschland zurücknehmen, die dort zuerst EU-Boden betreten haben und deshalb nur dort Asylantrag-berechtigt sind.
Und der Rest?
Das Kernproblem bleibt: Egal, wie hoch die Mauern gezogen werden, egal, wie abschreckend Asylverfahren in Europa gestaltet werden: Es kommen dennoch Menschen, die keine Aussicht auf ein Bleiberecht haben, aber zumindest auf Schwarzarbeit. Das gilt insbesondere für die Obst- und Gemüseindustrie in Südeuropa, die auch Deutschland mit günstigen Lebensmitteln versorgt. Selbst wenn all diese Menschen abgefangen und festgesetzt würden, könnten sie nicht einfach zurückgeschickt werden, weil ihre Herkunftsländer sie nicht haben wollen oder weil in ihnen tatsächlich gewalttätige Konflikte toben. Längst wird in Europa diskutiert, ob man diese Menschen - ähnlich wie Australien auf der Pazifikinsel Nauru in Lagern - gegen Bezahlung in Drittländer schicken kann, wo sie aber keinerlei Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben hätten. Mit europäischem und deutschem Recht wäre das nicht vereinbar, aber in Deutschland feiert eine Partei Hochkonjunktur, die ohnehin beides schleifen will.
Quelle: ntv.de