Politik

Schiffsunglück in Italien KR70M6 hieß Akef und wurde fünf Jahre alt

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Retter ziehen bei Cutro einen Leichnam aus dem Meer.

(Foto: AP)

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Am Ende ging selbst Giorgia Meloni auf Distanz zu ihrem Innenminister, dessen Kommentar der Katastrophe am Strand von Kalabrien als zynisch wahrgenommen wurde. Die vielen Toten haben Italien aufgewühlt. Jetzt steht ein böser Verdacht im Raum.

Das Schiffsunglück am Strand von Cutro hat Italien tief erschüttert. Zuerst schien es "nur" eines der vielen Unglücke von im Mittelmeer ertrinkenden Migranten zu sein. Aber längst ist es eine nationale Tragödie geworden. Fast jeden Tag werden weitere Opfer an den Strand gespült, bis Montag waren 71 gezählt worden. 81 Menschen überlebten, 30 bis 50 weitere Menschen gelten noch als vermisst.

Die Frage, die das Land aufwühlt, ist ganz einfach: Wurde wirklich alles getan, um die vielleicht mehr als 200 Menschen an Bord der "Summer Love" zu retten?

Die unidentifizierten Toten, die am Strand der kalabrischen Gemeinde im Süden Italiens angespült werden, bekommen alle einen alphanumerischen Code. Hinter dem Kürzel KR70M6 beispielsweise verbirgt sich ein Junge (M), der mutmaßlich 6 Jahre alt ist. Die 70 in der Mitte sagt, dass er das 70. gefundene Opfer ist, KR steht für die Provinz Crotone.

Das Kind KR70M6 konnte nun identifiziert werden: Sein Onkel Youssef und seine Tante Leyla kamen aus Deutschland und identifizierten ihren Neffen auf den Fotos und anhand eines Schuhs, den der Junge noch trug. KR70M6 heißt Akef, er wurde 5 Jahre alt und starb, als die "Summer Love", wie das türkische Schiff hieß, sank. Akefs Leichnam wurde einen Kilometer vom Unglücksort an den Strand gespült. Mit Akef starben sein Vater Zaboullah Tanoori, seine Mutter Mina und seine Brüder Hassif und Afir, vier und zwei Jahre alt.

"Jetzt sind sie alle tot"

Das Schiff war voller Kinder. Ein Zwölfjähriger aus Afghanistan verlor neun Familienangehörige, die mit ihm an Bord waren: die Eltern, vier Geschwister und drei weitere Angehörige. Bisher wurden 16 Kinder gefunden.

Die meisten der Opfer kamen aus Afghanistan. Wie auch die Fotografin Torpekai Amarkhel, die in Afghanistan auch für die UNO gearbeitet hatte und nach der Machtergreifung der Taliban fliehen musste. Ihre Schwester war aus den Niederlanden angereist, um sie in Kalabrien in Empfang zu nehmen. "Ich bin nach Crotone gekommen, um sie abzuholen, mit Spielzeug für die Kleinen, aber jetzt sind sie alle tot."

Der italienische Innenminister Matteo Piantedosi versuchte nach dem Unglück, die Verantwortung für die Toten auf die Eltern zu schieben: "Die Verzweiflung rechtfertigt es nicht, seine Kinder auf einer solchen Reise in Gefahr zu bringen", sagte er. Doch in der italienischen Öffentlichkeit hielt diese Linie nur wenige Stunden. Die Bilder der Verzweiflung vom Strand, von Kinderschuhen im Sand, von Spielsachen, von aufgebahrten weißen Särgen mit den niedrigen Zahlen am Ende der ID-Codes - all das sprach eine andere Sprache. Die Stimmung in Italien kippte um 180 Grad.

Keiner fühlte sich für das Schiff zuständig

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni versprach sofort einen schärferen Kampf gegen die Menschenhändler, aber ihr wurde erwidert, dass sie doch bei Erdogan anklopfen solle, aus dessen Hafen das Schiff wohl nicht unbeobachtet abgelegt habe, wenn sie schon etwas gegen die Schlepperbanden tun wolle.

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Ein Sarg mit dem 46. gefundenem Leichnam steht in Crotone in einer Turnhalle.

(Foto: AP)

Immer mehr Details aus der Nacht auf den 26. Februar sind seither bekannt geworden. Sie werfen ein düsteres Licht auf die Lage der Seenotrettung in Italien.

Einen Tag vor dem Unglück entdeckte ein Flugzeug von Frontex, der europäischen Grenzsicherungsbehörde, das Schiff 40 Seemeilen vor der Küste Kalabriens. Man wusste, dass es vier Tage zuvor im türkischen Izmir abgelegt hatte. Wärmebildkameras zeigten, so berichtete es Frontex an die italienischen Behörden, eine große Anzahl von Menschen an Bord.

Der Staatsanwalt von Crotone, Giuseppe Capoccia, hat strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen. Eine Gruppe von hochrangigen Anwälten, darunter ein ehemaliger Staatssekretär im Justizministerium, Luigi Li Gotti, vertritt einige der Überlebenden und fordert Aufklärung: "Diese ganze Geschichte muss in allen Details geklärt werden. Es kann doch nicht sein, dass ein Schiff 40 Meilen vor der Küste entdeckt wird und dann niemand eingreift."

Ob es einen Befehl gab, die Migranten auf der "Summer Love" ihrem Schicksal zu überlassen, ist noch nicht geklärt. Eine politische Stimmung in der Regierung aber, die wegschauen wollte, die gab es zweifellos: Keiner fühlte sich für das Schiff zuständig.

Italien schickte die Guardia di Finanza

"An dieser Stelle muss man leider bemerken", kommentierte der frühere Generalstaatsanwalt von Turin, Armando Spataro, "dass es wirklich unverständlich ist, dass die Meldung von Frontex nicht automatisch beim italienischen Seenotrettungszentrum ICC zur Ausrufung des SAR-Falles geführt hat." Search and Rescue, also Suchen und Retten.

Auch für den Admiral a.D. der Küstenwache, Vittorio Alessandro, ist das Verhalten der italienischen Seenot-Rettungszentrale ICC in Rom unerklärlich. "Das Schiff war stark überladen, und das allein ist schon eine Notsituation, die das Eingreifen der Küstenwache zwingend erfordert", auch ohne Hilferufe." Es werde Zeit, so der Admiral, dass die Küstenwache wieder ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht werde und unabhängig von politischem Einfluss entscheide, Menschenleben zu retten.

Denn nicht die Küstenwache bekam in der Nacht den Befehl auszulaufen, sondern die Finanzpolizei. Die grauen Schnellboote der militärisch organisierten Guardia di Finanza aber sind für Rettungsaktionen dieser Größe überhaupt nicht ausgelegt. Für die Rettungsschiffe der Küstenwache ist ein Meer mit Wellen der Stärke 4, wie in der Unglücksnacht, eine leichte Übung. Warum also wurde die Finanzpolizei losgeschickt? Sie ist für Grenzschutz zuständig, nicht fürs Retten.

Böser Verdacht: Das Unglück könnte in Kauf genommen worden sein

Wurde der Untergang der "Summer Love" vielleicht billigend in Kauf genommen, weil er der alten politischen Linie der italienischen Rechten entspricht, deren Vertreter früher das Versenken von Flüchtlingsbooten gefordert haben? Dieser böse Verdacht schwebt über den vielen in der Turnhalle von Cutro aufgebahrten Särgen.

Für die Meloni-Regierung ist die Tragödie von Cutro eine Bewährungsprobe, mit der sie wohl nicht gerechnet hatte. Schließlich sind die Migranten seit Jahren ein beliebtes Feindbild, das der italienischen Rechten politisch gute Rendite eingebracht hat. Matteo Salvini, Chef der Lega-Partei und vormaliger Innenminister, machte über Jahre Wahlkampf vor allem mit der Ablehnung der Flüchtlingsboote. Auch die amtierende Regierung identifizierte in den privaten Seenotrettern die Hauptverantwortlichen aller Übel Italiens, auch wenn die wenigen noch übrig gebliebenen Seenotrettungsschiffe nicht einmal zehn Prozent der Migranten aus Seenot retten. Ein Mehrfaches an Migranten wird von der Küstenwache gerettet, oder, kommt, wie die meisten, mit eigenen Booten direkt an die Küsten Italiens.

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Was die politische Stimmung in Italien aber zum Kippen gebracht hat, das waren die herzzerreißenden Bilder der toten Kinder und Frauen, der Särge mit den seltsamen Codes darauf. Plötzlich ruderte auch Meloni zurück und verlangte "volle Aufklärung", ging auf Distanz zu ihrem allgemein als "herzlos" und zynisch wahrgenommenen Innenminister Piantedosi, der den Opfern, die vor dem Terrorregime der Taliban geflohen waren, die Schuld gab.

Die Tragödie war auch ein erster Auftritt für die frisch als neue Chefin der oppositionellen Sozialdemokraten (PD) gewählte Elly Schlein: Sie forderte, dass Italien für aus Bürgerkrieg und absoluter Not fliehende Menschen ein sicherer Hafen sein müsse, forderte ein gemeinsames Handeln der EU, um gefahrlose Fluchtwege für Menschen aus so großer Not einzurichten. Worte, mit denen Elly Schlein das ausdrückte, was die meisten Italiener wohl in diesem Augenblick fühlen.

Quelle: ntv.de

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