Zwischenruf Der Präsident scheint lernfähig
27.03.2012, 16:38 Uhr
Gauck und Komorowski.
(Foto: REUTERS)
Mit der Wahl Warschaus als erste Adresse seiner Antrittsbesuche hat Gauck ein Zeichen gesetzt. Aber sollte der erste Besuch eines deutschen Staatschefs in Krisenzeiten nicht besser zuerst nach Brüssel und Straßburg führen?
Wenn Bundespräsident Joachim Gaucks erster Staatsbesuch nach Polen führte, ist das ein gutes, aber keineswegs alternativloses Zeichen. Zumeist führte der Weg des neugewählten Staatsoberhaupts nach Paris. Gaucks Vorvorgänger Horst Köhler hatte sich in allerbester Absicht ebenfalls zuerst nach Warschau begeben. Damals war der Gastgeber nationalkonservativ und hieß Lech Kaczynski. Den bilateralen Beziehungen hat es folglich nichts genützt.
Heute heißt der Partner des Deutschen Bronislaw Komorowski, ein Liberaler, der um Ausgleich mit dem Land im Westen bemüht ist. Gauck hat sich bemüht, Brücken zu dem einstigen oppositionellen Studentenführer zu schlagen, indem er die Gemeinsamkeiten des Kampfes gegen die Regierenden in der DDR und der Volksrepublik Polen hervorhob. (Im Unterschied zu Gauck hatte sich Komorowski allerdings schon Ende der 1970er Jahre politisch engagiert.) So ist zu erwarten, dass die Gauck-Visite auch wegen ihres Symbolgehalts einen Beitrag zur weiteren Ausgestaltung der Beziehungen leistet. Ein Quantensprung ist der Besuch nicht. Beobachter in Warschau verweisen denn auch ganz nüchtern auf die geringen Befugnisse eines deutschen Staatsoberhaupts.
Die Idee beider Präsidenten, gemeinsam an der Viadrina-Universität in Frankfurt am Grenzfluss Oder aufzutreten, ist begrüßenswert. Das gilt auch für die Idee, ein großes deutsch-polnisches Rockfestival zu veranstalten. Doch sollte sich niemand Illusionen hingeben. Weder Reden vor jungem akademischem noch Gesänge vor jugendlichem Publikum können die immer noch vorhandenen Ressentiments auf beiden Seiten abbauen. Aber es sind Schritte dahin.
Gauck hat gezeigt, dass er lernfähig ist. Hatte er doch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze 1950 durch die DDR heftiger Kritik unterzogen. Für Polen war die Anerkennung dieser Grenze durch die Bundesregierung immerhin eine "conditio sine qua non" für die Zustimmung zur deutschen Einheit. Man darf nun mit Blick auf seinen ersten Israel-Besuch gespannt sein. Kritiker hatten Gauck wiederholt vorgeworfen, die "Einzigartigkeit" des Massenmords der Nazis an den Juden in Frage gestellt zu haben.
Bleibt die Frage der Alternativlosigkeit eines Antrittsbesuchs in Warschau. Ein deutsches Staatsoberhaupt sollte weder zuerst nach Paris noch nach Warschau fahren: Besonders in Krisenzeiten, in denen, in denen nationale Egoismen die europäische Solidarität zunehmend behindern, wäre eine Erstvisite in Brüssel und Straßburg ein Zeichen des Bekenntnisses zu Europa.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist er Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de