
Die deutsche Botschaft in Kiew feiert auf ihrer Fassade die deutsch-ukrainische Freundschaft.
(Foto: REUTERS)
Nach skandalösen Aussagen des zurückgetretenen Vizeadmirals Schönbach steht Deutschland in der Ukraine massiv in der Kritik. Diese ist oft berechtigt, denn Kiew hat am Rande des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze mehr Unterstützung verdient.
Im Februar 2015 trug die Bundesregierung massiv dazu bei, dass sich der Krieg in der Ostukraine, der bisher mehr als 13.000 Menschenleben gekostet hatte, auf die Frontlinie reduzierte. Dass von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel mitinitiierte Friedensabkommen von Minsk mag aus ukrainischer Sicht nicht an allen Stellen vorteilhaft sein. Die diplomatischen Bemühungen brachten der Bundesregierung als wichtigstem Vermittler jedoch viel Anerkennung ein - auch in Kiew.
In diesen Tagen befinden sich die deutsch-ukrainischen Beziehungen dagegen an einem historischen Tiefpunkt. Nicht nur beharrt der neue Bundeskanzler Olaf Scholz auch im Angesicht des russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze auf der These, die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 sei ein wirtschaftliches Projekt. Auch die Kritik des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder an der Sanktionspolitik gegenüber Russland sowie die Blockade einer estnischen Waffenlieferung an Kiew sorgen in der Ukraine für Unverständnis. Dazu kamen am Wochenende noch die skandalösen Äußerungen des mittlerweile zurückgetretenen Vizeadmirals Kay-Achim Schönbach, Putin verdiene "Respekt" und die von Russland annektierte Krim-Halbinsel sei für die Ukraine verloren.
Kritik am Kurs der Bundesregierung wird nicht nur von Diplomaten wie dem ukrainischen Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, geäußert, sondern auch aus der ukrainischen Gesellschaft. "Deutschland wird in der Ukraine als Staat wahrgenommen, der den Verkauf seiner Waffen verbietet, die Lieferungen von Waffen durch andere Partner und die Fortschritte der Ukraine in Richtung einer NATO-Mitgliedschaft blockiert und Nord Stream 2 zu Ende baute, um Russland quasi die Möglichkeit eines Angriffs auf die Ukraine zu geben", heißt es in einem am Montag veröffentlichten Leitartikel der führenden Online-Zeitschrift "Ukrajinska Prawda".
Waffenlieferungen hätten vor allem Symbolcharakter
"Die neue deutsche Regierung hat noch die Zeit, ihre Politik der Unterstützung der Aggression gegen die Ukraine grundlegend zu ändern. Wenn dies aber nicht geschieht, kommt die Gesellschaft zum unvermeidlichen Schluss, dass Schönbach nicht wegen seiner schockierenden Äußerungen, sondern wegen unerlaubter Offenlegung der wahren Position der Regierung bestraft wurde", urteilen die Journalisten. Tatsächlich ist die ukrainische Kritik an vielen Punkten berechtigt: Es ist zumindest fraglich, ob das kategorische Nein zu Waffenlieferungen an die Ukraine mit Verweis auf die historische Verantwortung Deutschlands noch zeitgemäß ist. Zumal die Ukrainer mit mehr als fünf Millionen zivilen Opfern zu den größten Leidtraganden des Zweiten Weltkrieges zählten.
Die Frage der Waffenlieferungen an Kiew hat vor allem symbolischen Charakter. Vermutlich würden sie der Ukraine in einer direkten Auseinandersetzung mit Russland nicht viel bringen, und sie werden von Kiew wohl auch nicht so dringend gebraucht wie von Botschafter Melnyk dargestellt. Die Waffenproduktion der Ukraine ist ohnehin breit angelegt; das Land lag dem Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut zufolge im Zeitraum zwischen 2016 und 2020 auf dem zwölften Rang unter den weltgrößten Waffenexporteuren. Berlins kategorische Absage an Kiew suggeriert aber, dass die Ukraine an der aktuellen Zuspitzung mitverantwortlich ist - und dieser Eindruck ist vollkommen falsch.
Denn seit Amtsantritt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Mai 2019 hat die Ukraine mit Blick auf den Donbass-Krieg durchaus eine ernsthafte Friedenspolitik verfolgt. Das ist umso bemerkenswerter, weil der russische Präsident Wladimir Putin nur wenige Tage nach Selenskyjs Wahlsieg ein Dekret unterschrieb, das den Bewohnern der dortigen "Volksrepubliken" das Recht auf die russische Staatsbürgerschaft sicherte. Mit den riskanten gegenseitigen Truppenabzügen, neuen Gefangenenaustauschen und dem ersten erfolgreichen Waffenstillstand vom Sommer 2020, der völlig überraschend ein halbes Jahr hielt, wollte die Ukraine zumindest dem Stellungskrieg an der Frontlinie ein Ende setzen.
Nord Stream 2 ist Ausdruck des deutschen Zynismus
Mit ihrem Truppenaufmarsch vom Frühjahr 2021, der faktisch nie aufhörte, machte Russland diese Hoffnungen zunichte. Im September ließ Moskau faktisch seine Parlamentswahlen im besetzten Gebiet austragen. Durch die Öffnung des russischen Marktes für Waren aus den Separatistengebieten Donezk und Luhansk sowie die Übernahme der wichtigsten Industrieunternehmen der Region durch einen systemtreuen russischen Unternehmer zieht der Kreml zudem eine offensichtliche Wirtschaftsannexion des besetzten Donbass-Teils durch.
Unter diesen Umständen sollte Deutschland nicht nur grundsätzlich alle Unterstützungsoptionen für die Ukraine offenhalten. Deutschland und der Westen müssen auch ihre Sicht auf das Minsker Abkommen überdenken. Natürlich bleibt das Abkommen als einzige diplomatische Grundlage zur Beilegung des Donbass-Krieges wichtig. Doch es muss vollkommen klar sein, dass die Ukraine es mit Recht nicht vollständig erfüllt, wenn Russland Hunderttausende von Pässen im besetzten Gebiet ausgibt.
Vor allem hadert aber die Ukraine damit, dass die Bundesregierung ihre Sicherheitsbedenken in Sachen Nord Stream 2 nicht verstehen will. Kiew sieht es so: Ohne den Start für die erste Pipeline in den Jahren 2011 und 2012 wären weder die Annexion der Krim noch der Krieg im Donbass in dieser Form passiert. Den Bau von Nord Stream 2 in Zeiten des Donbass-Krieges hat die Ukraine von Anfang aus Sicherheitsgründen kritisch gesehen, denn die Chance auf einen Angriff auf die Ukraine ist aus der Kiewer Perspektive dann kleiner, wenn Putin Gas durch das Land pumpen muss. Die meisten ukrainischen Beobachter sprechen hier vom großen Zynismus Deutschlands. Seit dem Antritt der Ampelregierung wurde dieser Eindruck noch verstärkt.
Putin braucht eine klare Ansage
Militärisch bleibt ein Angriff Russlands auf die Ukraine eher unwahrscheinlich. Doch es herrscht unverändert eine Atmosphäre der Unruhe, die durch einen Hackerangriff auf die staatlichen ukrainischen Webseiten Mitte Januar und natürlich durch die mehr als 100.000 russischen Soldaten an der Grenze befördert wird. Dass Russland einen Angriff auf einen konkreten Ort wie Mariupol durchführt, ist nicht auszuschließen. Und in der Ukraine weiß derzeit niemand, mit welcher Unterstützung des Westens man dann rechnen dürfte.
Zur Unsicherheit trug maßgeblich auch die gemeinsame Erklärung Deutschlands und der USA zu Nord Stream 2 bei. Darin ist zwar von Sanktionen gegen Russland die Rede, wenn Moskau die Pipeline als "politische Waffe" einsetzt. Konkrete Maßnahmen werden jedoch nicht genannt. Und auch Bundeskanzler Scholz schafft es nicht, die Frage klar zu beantworten, ob er sich vorstellen kann, dass Gas durch Nord Stream 2 fließt, wenn der Konflikt weiter andauert.
Anders als etwa von Markus Söder behauptet, muss dem Kreml klar und im Voraus gesagt werden, welche Sanktionen selbst bei einem kleineren Angriff folgen würden. Dabei muss auch über Schritte nachgedacht werden, die Deutschland selbst schaden könnten. Denn Berlin ist für die aktuelle Situation zumindest mitverantwortlich - und die Ukraine hat diese Unterstützung durch ihren Versuch der Friedenspolitik im Donbass auch verdient.
Quelle: ntv.de