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Der Kommentar Eine schallende Ohrfeige

Der Bundesfinanzminister war gewarnt. Das Bundeskabinett war gewarnt. Die Fraktionen der Großen Koalition waren gewarnt. Es war die herrschende Meinung der Rechtswissenschaft, dass die Begrenzung der Pendlerpauschale auf Strecken von mehr als 20 Kilometer verfassungswidrig ist. Sie haben die Warnungen in den Wind geschlagen. Das Bundesverfassungsgericht hat sie nun ohne wenn und aber zurechtgewiesen. Die Steuerpolitiker in Berlin haben eine schallende Ohrfeige bekommen, Millionen von Arbeitnehmern ein Weihnachtsgeschenk.

Das Urteil aus Karlsruhe hat womöglich Bedeutung über den Streitfall Pendlerpauschale hinaus. Nicht einstimmig, aber mit eindrucksvoller Mehrheit haben die Richter aus dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes ein steuerrechtliches Willkürverbot abgeleitet mit der Forderung, dass alle Steuergesetze der Leistungsfähigkeit des Bürgers gerecht werden und folgerichtig sein müssen. Das Interesse des Staates an den Einnahmen reicht nicht aus, ein Gesetz zu begründen, wenn es an der sachlichen Grundlage für die Verteilung der Steuerlasten mangelt. Genau das war der Fall.

Mischung der Systeme

Die Begrenzung der Pauschale auf Strecken von mehr als 20 Kilometer war so willkürlich wie jede andere Grenze gewesen wäre. Deshalb ist auch die Entlastung für darüber hinaus gehende Strecken als Härtefall für die Verfassungsrichter nicht plausibel. Steuereinnahmen von 2,5 Milliarden Euro im Jahr sollten erreicht werden, und die kamen eben bei der 20-Kilometer-Grenze zusammen, indem zwei Steuersysteme beliebig gemischt wurden: Für einen Teil der Strecke wurde das Prinzip postuliert "die Arbeit beginnt am Werkstor", für den Rest sollten die Kosten "wie Werbungskosten" anerkannt werden.

Der Bundestag ist nicht gehindert, ein neues Gesetz zu machen. Pläne, zur alten Regelung zurückzukehren, aber mit der Verminderung des Kilometersatzes von 30 auf 25 Cent die vom Gericht verfügte Entlastung rückgängig zu machen passen allerdings kaum in eine Zeit, in der erbittert darüber gestritten wird, ob eine Steuersenkung aus der Wirtschaftskrise hinaus helfen kann. Ihre Realisierung wäre in einem Jahr mit Bundestags-, Europa-, und vier Landtagswahlen für die Parteien der Berliner Koalition auch ein nahezu lebensgefährliches Unterfangen.

Einwände weiterhin gerechtfertigt

Ohnehin sind der Gestaltungsfreiheit Grenzen gesetzt. Der Bundestag kann das System ändern, aber nicht das Prinzip. Die Fahrtkosten auf dem Weg zur Arbeit sind weder eine Steuervergünstigung wie die Steuerfreiheit von Nachtzuschlägen noch sind sie eine Subvention. Sie sind Werbungskosten, nämlich Aufwendungen zur Erzielung von Einkommen, und müssen deshalb wie der Frack des Orchestermusikers und der weiße Kittel des Arztes steuerlich berücksichtigt werden.

Die Einwände gegen die jetzige Form der Entfernungspauschale bleiben indessen gerechtfertigt. Sie trägt zur Zersiedlung der Landschaft bei. Auch entlastet sie wie alle steuerlichen Abzugsregeln den Besserverdienenden stärker als den, der nur ein geringes Einkommen hat. Zumindest das ließe sich mit einem Systemwechsel ändern.

Die Erfindung der Kernfamilie

Es sagt einiges aus über die Qualität der Gesetzgebung, dass erst das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe aufzeigen musste, an denen sich Regierung und Parlament zu orientieren haben. Dabei gab es schon eine beachtliche Liste von Steuergesetzen, die - nicht zuletzt durch familienfreundliche Urteile - in Karlsruhe verworfen wurden. Einen neuen Kandidaten für eine Verfassungsklage gibt es auch schon: das Erbschaftsteuergesetz. Ob die darin festgelegte Differenzierung der Steuersätze zwischen "Kernfamilie" und anderen Angehörigen eine sachliche Grundlage hat, darf bezweifelt werden. Der große Duden führt zwei Spalten lang Begriffe mit dem Wortbestandteil "Kern" auf. Die von der Koalition entdeckte "Kernfamilie" ist nicht dabei. Es gab sie nicht. Sie wurde erfunden wurde, weil die Neffen und Nichten des Erblassers so stark mit Erbschaftsteuer belastet werden sollen, dass die Einnahmen nicht sinken, wenn das Familienheim in der "Kernfamilie" aus Eltern und Kindern steuerfrei vererbt wird. Wie bei der Kürzung der Pendlerpauschale hat der Gesetzgeber vom Ergebnis zurückrechnend eine Begründung gesucht.

Ihm macht keiner etwas vor: Volker Jacobs berichtet seit 40 Jahren zunächst über die Bonner, nun die Berliner Republik. Für n-tv.de kommentiert er die Kämpfe um Macht und Einfluss.

Quelle: ntv.de

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