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Der Himmel über Berlin Fliegen am Finaltag

Von Sabine Oelmann

Flughafen München, Sonntagnachmittag, Endspieltag: Für mich ein relativ normaler Nachmittag, denn ich will einfach nur aus der "Hauptstadt mit Herz" in die Hauptstadt aller Deutschen, nach Hause, fliegen. Noch ein bisschen benommen von der Party, wegen der ich in München war, steuere ich mit meinem leichten Handgepäck zügig auf den Abfertigungsschalter zu. Ich bin pünktlich, das hat was zu heißen. Eine halbe Stunde vorher muss man eingecheckt sein, sonst nimmt German Wings einen nicht mehr mit. Das schaffe ich locker. Theoretisch.

Hysterie

Irgendwie schlägt mir allerdings, je näher ich dem Schalter komme, eine Welle der Aufregung, der Hysterie, der Aggression entgegen. Menschen fuchteln mit Papier, ihren Flugtickets, wie ich annehme, in der Luft herum und schreien. Ich stelle mich an. Wortfetzen dringen zu mir durch: "... nicht mehr genug Plätze... ", "...Luftraum voll ...", "... habe Endspielkarten ...", "... wir versuchen, Sie umzubuchen ..." usw. Mir dämmert so langsam, dass aus meinem günstigen Flug im ungünstigsten Fall heute nichts mehr werden wird.

Endspiel

Eine Schweißperle rinnt an meiner Wirbelsäule entlang. Ich dränge mich nach vorne. Dort steht ein völlig überforderter, aber sehr freundlicher junger Mitarbeiter der Airline und sagt so leise wie möglich, dass er alles versuchen wird, "uns", also den tobenden Mob vor seinem Abfertigungsschalter, noch heute irgendwie umzubuchen. Auf andere Maschinen. Etwas lauter fragt er dann, ob irgendjemand vom Flug zurücktreten möchte. Oder ob man was dagegen hätte, erst morgen zu fliegen. Morgen? Ein Aufjaulen geht durch die Menge. Morgen war - Betonung auf "war" - das Endspiel in Berlin, und die Menschen, die vorhin mit Papier in der Luft gewedelt haben, hatten mitnichten nicht ihre Flugtickets in der Hand, sondern ihre Eintrittkarten fürs Berliner Olympiastadion.

Ein Fax muss her

Tatsache ist, dass diejenigen bevorzugt behandelt werden, die ein solches Endspielticket vorweisen können. Die füllige und erstaunlich unverschwitzte Mitarbeiterin am German Wings-Schalter spielt nun Gott: "Wer ein Ticket hat, wird umgebucht auf Deutsche BA." Logische Konsequenz: Wer keines hat, bleibt hier. Erste Unflätigkeiten seitens derer, die kein Endspielticket vorweisen können, fliegen durch die Luft. "Wat is mit denen, die ihr Ticket zu Hause hab'n", fragt ein zu Recht entrüsteter Berliner. "Lassen Sie es herfaxen", antwortet die immer noch ziemlich coole, zugegebenermaßen engagierte und bei den Endspielticket-Besitzern äußerst beliebte Mitarbeiterin der German Wings. "Ick hab aba keen Fax, ick will jetzt nach Berlin!" Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin, schießt es mir durch den Kopf, und tatsächlich, einige ganz Verzweifelte fragen nach einem Mietwagen. Ortskundige weisen darauf hin, dass die Fahrt so lange dauern wird, dass man höchstens noch in den Autocorsostau geraten wird, und zwar nach dem Spiel. "Was ist mit Hamburg? Können wir nach Hamburg fliegen?" fragt eine sichtlich nervöse Kartenbesitzerin neben mir. Ja, Hamburg ginge, aber den Mietwagen übernimmt die Fluggesellschaftnatürlich nicht. Hmm, was tun?

No Ticket no Cry

Ich habe kein Ticket für's Endspiel, und da Deutschland nicht spielt, bin ich auch ausnahmsweise mal nicht zum Fußi-Gucken wie sonst in den letzten vier Wochen verabredet, zum Glück auch nicht Gastgeber einer Party oder sonstwas Wichtiges. Ich bin einfach nur eine müde Frau, die nach Hause zu ihrem Kerl und ihrem Kind möchte. Kurz überlege ich, welch dringenden Notfall ich geltend machen könnte, um unter die Umgebuchten zu kommen. Kind krank? Zu schnöde. Arbeit? Zu unwahrscheinlich am Sonntag. Krankheit? Ich fange an zu hüsteln, und gerade als ich meine potenziellen Mitreisenden darüber informieren möchte, dass ich unter blutigem Auswurf leide und sofort in die Charit muss, sagt die riesige Frau neben mir: "Hören Sie mal, Fräulein, ich habe in meiner Wohnung 10 Tickets liegen, und wenn meine Freunde nicht in meine Wohnung und an ihre Tickets rankommen, dann werde ich gelyncht. Und Sie auch!"

Klagen hilft immer

Zum ersten Mal nach langer Zeit blickt die engagierte Mitarbeiterin der Air-Line wieder hoch. Ich will gerade sagen: "Sie da, Sie Riesin, ich war zuerst hier!", da holt die große Frau zu dem ultimativ letzten und schlagenden Argument aus: "Diese Tickets haben 8.000 Euro gekostet! Und wenn wir alle nicht ins Stadion kommen, dann VERKLAGE ICH SIE!" Das sitzt. Ich bewundere die große Frau neben mir fast ein bisschen. Ein leichter Schweißfilm macht sich jetzt doch auf der Oberlippe der German-Wings-Frau (die ihre andere Mitarbeiterin übrigens in den wohlverdienten Feierabend entlassen hat) breit. "Und wer zahlt mir den Schlüsseldienst, wenn die meine Wohnung öffnen lassen? Das kostet 380 Euro!" Was diese Frau alles weiß!

Kuscheln bei 33 Grad

Ich schnappe nach Luft. Die war jetzt wirklich schneller als ich im Ausreden erfinden. Der junge Mitarbeiter nimmt nur noch die Fluggäste entgegen, die vom Flug zurücktreten. Er arbeitet sehr konzentriert. Ich sehe meine Felle davon schwimmen. Beherzt boxe ich einer älteren Dame neben mir in die Rippen und weise sie darauf hin, dass mir ihre Kuschelattacke bei 33 Grad Celsius und 88 % Luftfeuchtigkeit jetzt doch auf die Nerven geht und außerdem bin ich jetzt dran. Ich versuche es freundlich. Hart aber herzlich sage ich: "Ich muss heute noch nach Berlin." Ich lege wie zufällig meinen Presseausweis auf den Schalter. Keine Reaktion. Ich hänge meinen Oberkörper über den Schalter und versuche, bedrohlich zu wirken. Die riesige Frau neben mir schaut auf mich herab (obwohl ich nicht gerade klein bin), irgendwie triumphierend, rafft ihre Bordkarte und verschwindet in Richtung Halle A, Gate 06. Versunken blicke ich ihr nach.

Jetzt geht's lohooos

Da reißt ein anderer, nennen wir ihn mal Passagier, obwohl das zu dieser Zeit nicht wirklich klar ist, den Telefonhörer an sich und will "mit einem Vorgesetzten sprechen!". Jawoll, so ist es richtig. Zustimmend lauschen wir anderen Verzweifelten, aber keineswegs Verbündeten, den Ausführungen des aufgebrachten Mannes. Er fordert uns auf, laut zu sein. "Steh' auf, wenn du ein Deutscher bist!" kommt mir in den Sinn, doch das meinte der bekennende Fußballhasser nicht wirklich. Langsam wird es der Jana oder der Diana, also der Air-Line-Angestellten, zu bunt. Sie kreischt in den Hörer: "Ja, das sind alles Berliner!" Was soll das denn jetzt heißen? Dass Münchener was Besseres sind? Oder Hamburger? So kann das mit Schwarz-Rot-Geil aber nicht funktionieren. Ermattet überlege ich bereits, ob ich nicht doch zu meinen Freunden nach München zurück fahren sollte, dann könnte ich wenigstens grillen und Fußball gucken und Spaß haben, da kommt die Ansage, mit der keiner mehr gerechnet hat: "Sie können jetzt alle zum Gate Blablabla gehen und nach Berlin fliegen." Häh? Rumschreien hilft doch? Drohungen? Aufgestellter Kamm und angeschwollene Brust und Bizeps machen's möglich?

Der gute Gutschein

Egal, die "Berliner" stürmen in Richtung Abflug, verschwitzt lasse ich mich in die zweite Reihe des Fliegers sinken. Angekommen. Der Mann neben mir möchte seinen "Voucher" einlösen - überflüssig zu sagen, dass der Gutschein an Bord nicht mehr galt und dass wir noch eineinhalb Stunden auf der Rollbahn standen. Überflüssig auch die Anmerkung, dass man ja bereits ein paar Tage vorher wusste, WANN ENDSPIELTAG ist. Und wo.

Ich muss jetzt Franz anrufen. Bei der nächsten WM fliege ich auf keinen Fall mehr German Wings - aber die haben eh keine Maschinen nach Südafrika, oder?

Quelle: ntv.de

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