Manfred Bleskin kommentiert Französische Verhältnisse
25.04.2007, 14:48 UhrVon Manfred Bleskin
Politikverdrossenheit ist ein Unwort, das allenthalben missbraucht wird, um zu begründen, warum in Deutschland eine immer größere Zahl von Wählern den Urnen fernbleibt. Doch handelt es sich weniger um eine Verdrossenheit mit d e r Politik, sondern eine Verdrossenheit mit einer jedesmalig bestimmten Politik. Der Wähler, der viel schlauer ist, als mancher Politiker denkt, erkennt, dass Wahlprogramm und Politikpraxis der großen Volksparteien einander immer ähnlicher werden. Da viele den Kleinen nicht zutrauen, die MS „Deutschland“ auf einen neuen Kurs zu steuern, bleiben sie ganz einfach an Land.
Bei den französischen Präsidentenwahlen gelang es den beiden Erstplazierten, sich – bei durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten – so stark voneinander abzugrenzen, dass der eine nicht als Blaupause des anderen erschien. Das ist der Hauptgrund für die Rekordwahlbeteiligung von mehr 84 Prozent. Bislang waren im Durchschnitt 40 v. H. der Wähler lieber daheim geblieben. Der Sieger ist zunächst also die parlamentarische Demokratie in ihrem eigentlichen Mutterland.
Nicolas Sarkozy setzte auf Nationalismus und Sicherheit, Sgolne Royal auf Gerechtigkeit und Arbeitsplätze. Sarkozy gelang es in der ersten Runde, über den bürgerlichen Wählerstamm hinaus auch einen beträchtlichen Teil der Arbeiterschaft und der Angestellten für sich zu gewinnen. Mit seinen 31,1 gegen Royals 25,8 Prozent hat er für Runde zwei – auf den ersten Blick – die besseren Karten. Doch hat ein beachtlicher Teil der sozialistischen Wählerschaft für den liberalen Franois Bayrou votiert. Bei so manchem mag auch ein gewisser Machismo eine Rolle gespielt haben; die Hauptursache für die Wanderung war aber, dass man es ihr schlicht und ergreifend nicht zutraute, in die zweite Runde zu kommen. Hatte sie doch ihr Wirtschaftsberater öffentlichkeitswirksam im Stich gelassen und war ins Sarkozy-Lager gewechselt. Die Unterstützung der sozialistischen Granden wie Laurent Fabius, Dominique Strauss-Kahn, Michel Rocard und Bernard Kouchner für Royal war – freundlich ausgedrückt – halbherzig. Selbst ihr eigener Lebensgefährte und Parteichef Franois Hollande lag mit ihr streckenweise über Kreuz. Dies wird sich mit Blick auf den 6. Mai ändern. Der Ruf „Tout sauf Sarkozy“, mit dem eine vor allem junge Wählerschaft besonders in den Vorstädten mobilisiert werden konnte, kann im zweiten Wahlgang eine noch größere Wirkung erzielen. Die Linke links vom Parti Socialiste hat schon zur Stimmabgabe für die Zweitplazierte aufgerufen.
Es ist also noch keineswegs ausgemacht, dass Sarkozy das Rennen für sich entscheidet. Für eine Niederlage des Bestplatzierten aus Runde eins in Runde zwei hat es historische Präzedenzfälle: 1974 unterlag der mit zehn Prozent führende Sozialist Franois Mitterrand dem Neogaulisten Valery Giscard d’Estaing. 1981 war’s umgekehrt. 1995 verwies der zunächst unterlegene Jacques Chirac den Sozialisten Lionel Jospin auf den zweiten Rang.
Sarkozy muss in Sachen Nationalismus, Einwanderungsrestriktion und Sicherheit noch eins drauflegen, um Wähler vom Rechtsradikalen Jean-Marie Le Pen für sich zu gewinnen. Ein solcher Diskurs kann viele Bayrou-Wähler abschrecken. Royal hingegen stände mehr Wirtschaftskompetenz gut zu Gesicht; dabei darf sie sich um den Preis des Verlusts linker Stimmen auch aus der eigenen Partei aber nicht auf neoliberales Terrain begeben.
In jedem Fall werden sich beide Kandidaten noch stärken voneinander abgrenzen, ihr Profil weiter schärfen. Dies wird die Wähler abermals zu einem Ansturm auf die Wahllokale veranlassen. Die Demokratie siegt dann ein weiteres Mal.
Die Moral für die deutsche Geschicht’: Profilschärfung und Alternativangebote sind der einzige Weg, „Politikverdrossenheit“ zu überwinden. Das aber ist in Zeiten der Großen Koalition fast unmöglich. So werden wir wohl bis 2009 warten müssen, um uns „französischen Verhältnissen“ anzunähern.
Quelle: ntv.de