Zwischenruf "Klarheit muss her"
02.11.2009, 18:11 UhrGut eine Woche nach Amtseinführung der neuen Bundesregierung erweckt das Regierungsbündnis den Eindruck einer durcheinanderschnatternden Gänseherde. Die Steuerdebatte ist dabei nicht das einzige, wohl aber schwerwiegendste Thema. Union und FDP haben dem Koalitionsvertrag offensichtlich nur aus Gründen von Machterhaltung respektive – gewinn zugestimmt: Steuersenkungen zu versprechen ist die eine Seite, sie zu verwirklichen die andere. Jetzt rächt sich, dass der Koalitionsvertrag mit heißer Nadel genäht wurde.
Der Streit um die angekündigten Steuersenkungen legt düstere Wolken über ein Kabinett, dessen beteiligte Parteien einander als Wunschpartner bezeichnet hatten. Ein Honeymoon – wie dereinst bei Schwarz-Rot - findet nicht statt. Zu unterschiedlich sind die Interessen beider Seiten.
Selten hat eine neue Regierung in Deutschland einen desaströseren Start gehabt. Das begann schon während der Koalitionsverhandlungen, als das Projekt "Schattenhaushalt" aus Angst vor der eigenen Courage und den Karlsruher Verfassungsrichtern fallengelassen wurden. Klar war von Anfang an, dass Steuersenkungen die Haushaltslöcher vergrößern. Die Steuermehreinnahmen liegen im laufenden Jahr mit erwarteten zwei Milliarden Euro zwar über den bisherigen Schätzungen. Das reicht hinten und vorn nicht.
Wenn Gewerkschaften, SPD und Linke Sturm gegen die Pläne laufen, ist das nachvollziehbar. Beachtliche Teile ihrer Mitglieder- und Anhängerschaft würden ohnehin kaum in den Genuss von weniger Steuern kommen. Wenn sich aber der CDU-Finanzminister und unionsgeführte Landesregierung einschließlich ihrer liberalen Regierungspartner gegen die Pläne der Bundes-FDP stemmen, gibt das zu denken. Dem FDP-Finanzexperten Hermann Otto Solms hat seine vorsichtige Kritik schon einen Karriereknick eingebracht. Er wurde nicht, wie erhofft, Finanzminister. Bei den liberalen Landesgranden wird Bundesparteichef Guido Westerwelle vorsichtiger sein müssen.
Es wird der Koalition nicht gelingen, die Festlegungen des Koalitionsvertrages in Sachen Steuern so umzusetzen wie vereinbart. Die Länder haben Widerstand angekündigt, weil sie zu Recht befürchten, dass sie einen Gutteil der Lasten schultern müssen. Aber selbst ein Kompromiss bedeutet Mehrbelastung, der dann an die Kommunen und damit an die Bürger weitergereicht wird. Stichworte: Erhöhung von Müllabfuhr- und Wassergebühren. Dass der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auf drei Prozent steigt, ist bereits ausgemacht.
Die Liberalen haben durch ihren Eiertanz in der Sonntagsfrage schon drei Prozentpunkte eingebüsst; die Union gewinnt die Punkte hinzu, besser: zurück. CDU/CSU profitieren (noch?) vom Glanz der Kanzlerin und der Resolutheit ihres Finanzministers.
Sicher: Dass Kanzlerin und Außenminister dieser Tage in der Weltgeschichte herumreisen, gehört zum Geschäft. Aber das Desaster daheim erheischt eine rasche Rückkehr, will sich die Bundesregierung nicht dem Vorwurf des Wahlbetrugs aussetzen. Klarheit muss her. Ohne Machtwort wird es wohl nicht mehr gehen. Mal abgesehen davon, dass Angela Merkel keine Freundin von Machtworten ist: Guido Westerwelle könnte antworten: "What?"
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de