Zwischenruf Moskaus dreifaches Dilemma
26.05.2010, 14:05 Uhr
Da schien die Welt noch in Ordnung: US-Präsident Obama und sein russischer Kollege Medwedew unterzeichnen den neuen START-Vertrag.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Beginn der Stationierung von US-Raketen des Typs "Patriot" in Polen 60 Kilometer vor der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad, früher Königsberg, zeigt, dass die Versöhnungsszenen von Katyn und die Teilnahme einer Einheit der Wojsko Polskie an der Militärparade auf dem Roten Platz am 9. Mai kaum mehr als Momentaufnahmen sind.
Die "Patriots” haben eine Reichweite von 80 Kilometern. Sie können von Russland nur als Bedrohung wahrgenommen werden. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Flugkörper bei Tests, Computersimulationen und praktischen Kriegseinsätze wie am Golf zu Beginn der neunziger Jahre unabhängigen Untersuchungen zufolge nur eine Erfolgsquote von etwa zehn Prozent aufweisen.
Russland reagiert zurückhaltend
Die Entscheidung muss Moskau ziemlich unvorbereitet getroffen haben. Noch vor kurzem hatte eine staatseigene Agentur davon gesprochen, die "Patriot"-Dislozierung würde "zunehmend fraglicher". Ursprünglich wollten die Vereinigten Staaten Mitte April damit beginnen, die Flugkörper in Stellung zu bringen. Unmittelbar nach Unterzeichnung des START-II-Nachfolgeabkommens durch die Präsidenten Dimitri Mewedew und Barack Obama auf dem Hradschin zu Prag und vor den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in Russlands Kapitale wäre der Affront noch offensichtlicher geworden.
Die offizielle Reaktion des russischen Außenministeriums ist auffallend zurückhaltend. Von einer ursprünglich ins Auge gefassten Aufrüstung des Kaliningrader Gebiets mit "Iskander"-Raketen ist keine Rede. Der Präsident hatte erst am Dienstag bei einem Treffen mit US-Unternehmern für Investitionen in die russische Innovationszentren geworben. Die technologische Rückständigkeit Russlands ist die Achillesferse der Großmacht, deren wirtschaftliche Stärke sich überwiegend auf ihre Rohstoffressourcen gründet.
Forderung nach Ausstieg auf START-II-Vertrag
Die Entscheidung über die "Patriot"-Raketen wird jenen in Russland Auftrieb geben, die einen Ausstieg aus dem – noch nicht ratifizierten – START-II-Nachfolgeabkommen fordern, wenn eigene Sicherheitsinteressen bedroht sind. Eben diese Klausel ist in dem Papier enthalten. Zudem ist der wieder gewonnene Status einer Beinahe-Supermacht ein wichtiges Bindeglied zwischen einer vielfach verarmten Bevölkerungsmehrheit und der Führung des Landes. Bereits im März hatte die Kreml-Partei "Geeintes Russland" bei den Kommunal- und Regionalwahlen empfindliche Hiebe einstecken müssen. Jüngst siegte bei den Bürgermeisterwahlen in der bedeutenden sibirischen Garnisons- und Industriestadt Bratsk der Kandidat der Kommunisten.
Die "Patriots" bringen Kreml und Moskauer Weißes Haus in eine dreifache Klemme. Eine technologische, eine militärische und eine politische. Von einem Friedensnobelpreisträger hätte man anderes erwartet.

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de