Maultaschen-Prozess Mut zum Menschenverstand
03.04.2010, 12:44 UhrHätten die Senioren im Konstanzer Altenheim doch nur ein wenig mehr Hunger gehabt oder größeres Interesse an lokalen Spezialitäten. Sechs Maultaschen waren an einem Abend im April 2009 übrig - und wären in den Müll gewandert. Eine Krankenpflegerin, 58 Jahre alt und die letzten 17 davon in dem Spital am Bodensee beschäftigt, griff zu und verlor ihren Job. Der Fall ging vor Gericht – und neigt sich erst jetzt seinem Ende zu.
Es ist eigentlich lächerlich, wenn solche Vergehen im Zeitalter der Millionen-Abfindungen für Konkurs-Banker überhaupt zu Entlassungen und Prozessen führen. Diese Kritik ist alt, sie wurde bei allen Bagatell-Delikten in der Vergangenheit aufs Neue entfacht. Solange es nicht konkret verboten ist, Mitarbeiter wegen 80 Cent-Pfandbons oder halben Brötchen zu feuern, liegen solche Entscheidungen bei den Chefs. Und unter denen gibt es nun mal schwarze Schafe, für die "Verhältnismäßigkeit" ein Fremdwort ist.
Moralisches Gerichts-Dilemma
Daher ist es gut und gerecht, dass die Pflegerin für die Kündigung nun mit bis zu 42.500 Euro von ihrem Arbeitgeber entschädigt werden soll. Warum aber muss eine solche Bagatelle eigentlich durch gleich zwei Gerichtsinstanzen gehen, so dass es ein ganzes Jahr dauert, bis der Fall annähernd geklärt ist? Ein Jahr, in dem die Pflegerin krankgeschrieben ist und ihre weiteren Job-Aussichten dahinschwinden sieht. Warum urteilt der erste Richter gegen die Maultaschen-Diebin, der zweite gegen ihren Chef? Man sollte doch annehmen, dass die Gesetze klar formuliert sind. Tatsächlich werden hier, am untersten Belanglosigkeits-Rand der Vergehensliste, zwei Prinzipien, die eigentlich konform gehen sollten, zu Gegensätzen: Gesetzestreue und gesunder Menschenverstand. Solange sich diese beiden Prinzipien nicht widersprechen, etwa bei Mord oder bewaffnetem Überfall, bedeutet ein Urteil für den Richter bei eindeutiger Beweislage kein moralisches Dilemma, wohl aber offensichtlich beim Klau von ein paar Gramm Müll.
Richter Nummer eins löste das Dilemma, indem er den Nutzen der Entlassung mit undurchsichtiger Terminologie zu rechtfertigen versuchte: "Präventivfunktion". Auch wenn man nicht genau weiß, wem oder was hier vorgebeugt werden soll, irgendwie klingt es nach einer hinreichenden Erklärung. Nötig wäre die schwammige Begründung jedoch nicht gewesen. Diebstahl, ob im kleinen oder im großen Stil, ist strafbar. Ganz konnte der Richter seinen gesunden Menschenverstand offenbar nicht unterdrücken. Sein Urteil "nur" mit Gesetzesbruch zu begründen - das wäre zu absurd gewesen.
Die Pflegerin sah diesen weitreichenden Nutzen ihrer Entlassung allerdings nicht und reichte Berufung ein. Richter Nummer zwei verfolgte ein halbes Jahr später im Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg einen anderen Ansatz: Nicht die Unterdrückung, sondern den Gebrauch seines gesunden Menschenverstands. Dem Arbeitgeber sei durch das Fehlverhalten der betroffenen Altenpflegerin kein wirtschaftlicher Schaden entstanden, so die finale Erklärung des Richters. Das hört sich zwar nicht nach Gesetz an, aber nach menschlicher Logik.
SPD fordert Spielraum
Die SPD versucht, dem Bagatellfall-Problem beizukommen. Laut Fraktionsvize Olaf Scholz liegt dem Bundestag bereits ein Gesetzesentwurf vor. "Die Gerichte müssen in derartigen Fällen mehr Spielraum erhalten", so der Sozialdemokrat. Ist das das Problem? Anscheinend haben die Gerichte diesen Spielraum doch bereits. Wie ist es sonst möglich, dass sich die Urteile zweier Richter im selben Fall komplett widersprechen? Was den Gerichten bei Bagatell-Prozessen fehlt, ist nicht Freiheit, sondern Mut. Auch wenn es verstörend sein kann, im deutschen Justizsystem den gesunden Menschenverstand einzuschalten – wenn es um sechs Maultaschen geht, ist es einen Versuch wert.
Quelle: ntv.de