Gegen den Strich Rom brennt: ein Fanal für den Westen
18.10.2011, 15:56 Uhr
Wer, wenn nicht wir? Die Bürger gehen auf die Straße.
(Foto: Reuters)
Nicht nur in den arabischen Staaten begehren die Menschen auf, auch im Westen nimmt der Bürger seine Geschicke mehr und mehr selbst in die Hand. Ob auf der Wall Street gegen die Finanzbranche oder in Thüringen gegen Hochspannungsleitungen durch den Thüringer Wald - die Proteste kunden vom Vertrauensverlust in die repräsentative Demokratie.
"Occupy Wall Street" – die Anti-Banken-Proteste entwickeln sich zur mächtigsten globalen Polit-Bewegung seit den 1960ern. Vor 50 Jahren bündelte sich in den Demos gegen den Vietnamkrieg die Unzufriedenheit der Jugend mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in den jeweiligen Ländern: die verkrustete Politikerkaste in Frankreich, der Rassismus in den USA, die Verdrängung der NS-Zeit in Deutschland, die altbürgerlichen Moralgesetze. Heute speist sich die Wut nicht nur aus ohnmächtiger Empörung über das Zockertum und die Selbstbedienungsmentalität vieler Finanzmarktakteure.
Vielmehr geht es den Demonstranten, ob in Europa und in den USA oder in den arabischen Ländern, auch um bessere wirtschaftliche Perspektiven und mehr Demokratie. In vielen arabischen Ländern war die Rebellion erfolgreich und hat die alten Diktatoren gestürzt. In Europa und USA könnte der Systembruch drohen, wenn die Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel und dem G20-Gipfel in den kommenden Wochen der Entscheidungen nicht endlich die Kurve bekommen und die Finanzmärkte bändigen. Gelingt das drei Jahre nach dem Kollaps der Lehman-Bank trotz der neuen Eskalation der Krise nicht, dann könnten nach Rom wie am Wochenende bald andere Städte im alten Westen brennen. Die Bürger sind der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse überdrüssig.
Die Konstitution der westlichen Demokratien ist ein Jammer. Der Staat steht auf zunehmend wackligen Beinen. An keiner Stelle gelingt es ihm, Stärke zu zeigen. Die dringend überfällige Sanierung der Staatsfinanzen wird überall im parteipolitischen Klein-Klein totgeredet. Regierungen und Parlamente wirken zunehmend gebrechlich und anfällig für falsche Ratgeber aus den Reihen der Lobbyisten.
Bürger begehren auf
Der schwächliche Auftritt zehrt gewaltig an der Legitimität. Die Bevölkerung verliert ihren Glauben an die Institutionen der repräsentativen Demokratie und der Marktwirtschaft. Der politische Frust führt zu wachsender Wahlverweigerung und Desinteresse an der Politik. Mit dem Ansehen des Systems verfällt auch die Akzeptanz parlamentarisch getroffener Mehrheitsentscheidungen oder demokratisch legitimierter Verwaltungsakte. Immer öfter begehren Betroffene vor Gerichten auf. Oder es formiert sich eine Abwehrfront in der Gesellschaft, organisiert von einer Handvoll Aktivisten, die eine große Zahl Gleichgesinnter in kurzer Zeit zu mobilisieren verstehen, wobei ihnen die neuen elektronischen Formen der Kommunikation per Twitter, Blogs und Chats eine Menge Durchschlagskraft verleihen, wie sie der außerparlamentarischen Opposition der Achtundsechziger nicht zur Verfügung stand.
Auf allen Ebenen mischen sich Bürgerbewegungen ein, auch in Deutschland. Mal stoppen sie ein halbfertiges Kohlekraftwerk im nordrhein-westfälischen Datteln, mal verhindern sie den Abriss des maroden Schauspielhauses in Köln zugunsten eines Neubaus. Mal wehren sie sich gegen den Bau von Hochspannungsleitungen durch den Thüringer Wald, um den Strom der in Nord- und Ostsee gelegenen Windparks in den Süden der Republik zu schaffen.
In den neuen Beteiligungsformen können große Gefahren für unser politisches System lauern, vielleicht auch Chancen für eine Revitalisierung unserer Demokratie liegen. Wohlwollend betrachtet: Überall entstehen Graswurzelbewegungen, bilden Bürger spontan und punktuell Allianzen auf Zeit zur Durchsetzung wichtiger Anliegen der Allgemeinheit. Sie nehmen mehr und mehr die Geschicke des Landes in die eigene Hand. Hier entwickeln sich die Keimzellen neuer Formen direkter Demokratie.
"Obsession für den Status Quo"
Argwöhnisch betrachtet: Eine Event-Demokratie ist im Entstehen. Die Fraktion der Internet-Aktivisten jeden Alters ist dabei, ihre Vorstellungen vom guten Leben zur allgemeinen Norm zu machen. Auf dem Weg dorthin erobert diese artikulationsmächtige Minderheit sukzessive die Deutungsmacht über die Politik, dirigiert zunehmend Stimmungen und Aktionen und verdrängt die Stammtische als Träger der Lufthoheit im Land. Ihre Stärke liegt im Neinsagen, ihre inhaltlichen Positionen richten sich gegen Veränderungen. Treffend ortet der ehemalige deutsche Botschafter in Washington, Wolfgang Ischinger, hierzulande eine "Obsession für den Status Quo". Damit treffen die Verweigerungsaktivisten das Grundgefühl eher unpolitischer, aber unversicherter Mittelschichten, deren Status durch Globalisierung, technischen Fortschritt und Arbeitsmarktflexibilisierung erschüttert wird und die sich daher von den Lifestyle-Aktivisten für deren Zwecke einspannen lassen.
Die Demokratie steht am Scheideweg: Werden die Parlamente als die Orte kritischer Reflexion, die Agenten des Gemeinwohls und Inhaber demokratisch legitimierter Entscheidungsgewalt abgelöst und entmachtet? Oder saugt das politische System die neuen Bürgerbewegungen auf, was unserem Land einen großen Innovationsschub von unten bringen könnte?
Gesellschaftlicher Zusammenhalt geht verloren
Die politische Verunsicherung wächst. Der Veränderungsdruck ist groß. In welche Richtung sich unser demokratisches System bewegt, ist offen. Die Unruhe in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts führte zu der 68er-Bewegung und der von ihnen initiierten Umwälzungen, aus denen die Demokratie gestärkt hervorging. In der Weimarer Republik endete die politische Unzufriedenheit im Totalitarismus.
In den kommenden Tagen drohen die nächsten Dominosteine zu fallen. Frankreichs Bonität als erstklassiger Schuldner gerät ins Gerede. Wenn der Nachbar fällt, dürfte Deutschland an die Reihe kommen. Angesichts der Ausbreitung der Schuldenkrise wird der Staat immer hilfloser, wird zu weiteren Einsparungen gedrängt, was wiederum die Bürgerproteste verschärfen wird.
Der Staat büßt seine soziale Gestaltungsmacht ein. Der gesellschaftliche Zusammenhalt geht verloren. Das brennende Rom vom Wochenende könnte zum Fanal für die westlichen Demokratien werden. Ich habe keinen Zweifel: Die bereits heute nicht mehr besonders kraftvoll wirkenden politischen Institutionen in Deutschland und auf europäischer Ebene werden komplexe und heikle Situationen nicht erfolgreich bewältigen können. Schon die Griechenland-Krise hat das System an seine Grenzen geführt.
Können der EU-Gipfel und der G20-Gipfel mit starken Entscheidungen zu den Finanzmärkten den Rutsch in den Abgrund noch aufhalten?
Prof. Dr. Klaus Schweinsberg ist Gründer des Centrums für Strategie und Höhere Führung und Vorstand der INTES Stiftung für Familienunternehmen. Der Volkswirt und Publizist arbeitet als persönlicher Berater für große Unternehmen und Top-Manager.
Quelle: ntv.de