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Politik im Corona-Dilemma Was ist dem Land das Leben wert?

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Särge mit Corona-Opfern in einer Kirche in Norditalien

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Grundrechtsbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Infektion sind einschneidend. Bundesregierung und Gesetzgeber stellen ihre Entscheidungen als alternativlos dar. Doch auf Dauer kommt die Politik nicht drum herum, die Frage nach dem Preis des Lebens zu stellen.

Deutschlands Regierungspolitiker und die sie unterstützenden Mandatsträger treffen derzeit so weitreichende Entscheidungen wie nie zuvor und wollen es doch nicht so recht gewesen sein. Das Wort von der Alternativlosigkeit geht rum. Die Verantwortung für die folgenreichsten Umwälzungen in der Geschichte der Bundesrepublik tragen demnach wahlweise das Virus Sars-Cov2 oder die Experten, die die Politik beraten. Doch den Eindruck zu erwecken, die Politik sei ausschließlich getrieben von biologischen Sachzwängen, kommt dem Werfen einer Nebelkerze gleich. Diese Darstellung verschleiert, dass "die Politik" natürlich Abwägungen über Leben und Tod trifft - in normalen Zeiten genauso wie in dem Ausnahmezustand, den wir jetzt erleben.

Es ist eine Entscheidung zugunsten individueller Freiheit, wenn das generelle Tempolimit auf deutschen Autobahnen nicht kommt, obwohl es Leben retten könnte. Es ist eine Entscheidung zugunsten der Wirtschaft, dass potenziell krebserregende Plastikmaterialen oder Pestizide nicht rigoros verboten werden, solange ihnen eine große Schadenswirkung nicht eindeutig nachgewiesen ist. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer großen Fernsehansprache sagt, dass "jedes Leben zählt", dann ist das zwar generell richtig. Aber das Ziel, jedes einzelne Leben zu retten, ist nicht allein maßgeblich in der politischen Entscheidungsfindung. Jede potenziell lebensrettende Maßnahme hat ihren Preis und der wird natürlich auf seine Verhältnismäßigkeit abgeklopft.

Sonst hätte man das Land auch bei der großen Grippe-Epidemie 2017/18 herunterfahren müssen, als laut Robert-Koch-Institut mehr als 25.000 Menschen starben. Selbstverständlich war der Fall anders gelagert: Gegen die normale Grippe lässt sich impfen, die Influenza tritt saisonal auf, der Anteil der Gefährdeten an der Gesamtbevölkerung ist kleiner als im Fall des offenbar aggressiveren Virus Sars-Cov2. Vor allem aber: Es gab vor zwei Jahren keinen zeitlichen Vorlauf mit drastischen Bildern aus anderen Regionen der Welt, die Deutschland vor die Wahl gestellt hätten, ob das Land ein paar Zehntausend vorzeitige Tode vor allem älterer Bürger hinzunehmen bereit ist oder nicht.

Die Existenz hängt nicht an der Gesundheit allein

Die demokratische Gesellschaft entscheidet durch ihr Reden und Handeln jeden Tag darüber, wie viel Tod und Leid Einzelner zu akzeptieren sind, damit die wirtschaftlichen Lebensgrundlagen und Grundfreiheiten Aller nicht über Gebühr beschädigt werden. Diese Abwägungen finden aber fast immer in einem öffentlichen Diskurs statt. Sie werden weder auf Experten abgewälzt, noch beansprucht die Regierung die Entscheidungsfindung für sich allein.

Ausgerechnet in dieser Ausnahmesituation aber, in der die getroffenen und noch anstehenden Entscheidungen tief in Jedermanns Leben eingreifen - sei es in die Einkommenssituation der Bürgerinnen und Bürger oder in ihre Grundfreiheiten - tun sich Politik und Öffentlichkeit mit so einer Debatte schwer, auch aus moralischen Skrupeln. FDP-Chef Christian Lindner und die stellvertretende Bundesvorsitzende Katja Suding sind in den sozialen Netzwerken scharf kritisiert worden, als sie die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen für das Wirtschaftsleben gestellt haben. Dabei hängt die Existenz der Menschen nicht allein an ihrer Gesundheit.

Die vom ifo-Institut prognostizierten Schäden von mindestens 50 Milliarden Euro für die deutsche Wirtschaft bei zwei Monaten Stillstand sind verheerend. Firmen gehen pleite, Selbständige stehen vor der Insolvenz, Menschen verlieren ihre Arbeit und ihr Erspartes, weil sie es an der Börse investiert haben. Das Geld für die Hunderte Milliarden Euro schweren Rettungspakete von Bund und Ländern wird in den kommenden Jahren an anderer Stelle fehlen, womöglich auch im sozialen oder im Gesundheitsbereich.

Die Zustimmung könnte kippen

Unter dem Eindruck der Not hat aber im Bundestag eine ausführliche Debatte über die Rettungsmaßnahmen für Unternehmen und Arbeitnehmer genauso wenig stattgefunden wie über die schweren Eingriffe ins Grundgesetz. Dabei melden Verfassungsrechtler Bedenken an angesichts des Ausmaßes der Selbstermächtigung der Regierung mittels Infektionsschutzgesetz.

Das Verhalten des allergrößten Teils der Bevölkerung sowie Umfragen deuten darauf hin, dass der bisherige Kurs der Verantwortlichen auf breite Zustimmung trifft - eben auch unter dem Eindruck der vermittelten Alternativlosigkeit. Allerdings ist eben die ganze Wucht der Folgen dieser Politik auch noch nicht bei den meisten angekommen. Ein Kippen der Stimmung binnen Wochen oder weniger Monate ist sehr wohl möglich.

Nicht zuletzt auch deshalb, weil mit den Älteren die Hauptadressaten der ergriffenen Maßnahmen - 87 Prozent der Corona-Toten in Deutschland sind mindestens 70 Jahre alt, zwei Drittel 80 Jahre und älter - nicht restlos überzeugt scheinen. Nicht wenige fragen sich derzeit nach dem Wert eines Rentner-Daseins in Isolation und Abhängigkeit, gerade die vielen Alleinlebenden.

Das Land wird hochgefahren, obwohl das Sterben weitergeht

Wahrscheinlich ist die überwiegende Mehrheit der Bürger bereit, schwere Einschnitte auch dauerhaft hinzunehmen, um eine bedeutsame Zahl vorzeitiger Todesfälle zu verhindern und einer noch größeren Bevölkerungsgruppe die Folgeschäden einer schweren Lungenentzündung zu ersparen. Dafür braucht es aber die von der Kanzlerin in Aussicht gestellte Transparenz.

Einem Medienbericht zufolge hat Merkel am Montag in einer Sitzung des CDU-Präsidiums davor gewarnt, öffentlich über einen Exit aus der gegenwärtigen Situation zu debattieren. Dabei ist klar: Die Ausgangssperren sind wirtschaftlich nicht unbegrenzt durchzuhalten. Eine weitere Frist wird gesetzt durch die mentale Gesundheit der Gesamtbevölkerung. Die Bundesregierung wird sich also früher oder später in einer Situation wiederfinden, in der sie die Restriktionen lockert, obwohl auch dann noch - so wie jetzt - Menschen an Covid-19 sterben werden. Das wird sie erklären müssen.

Es ist noch nicht abzusehen, von welcher Seite sie dann mehr unter Druck geraten wird: von Seiten der prinzipiellen Verteidiger bürgerlicher Freiheiten, die etwa in Form der FDP, die jetzt schon die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt, oder von Seiten derjenigen, die sich als starke Männer gerieren, indem sie stets als erste zu den strengsten Maßnahmen greifen, wie etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder.

Eine unausweichliche Frage

Die Bundesregierung hat versprochen, in der Corona-Krise alles Notwendige zu tun. Nur muss sie diese Not auch definieren können. Sie besteht nicht in der Vermeidung einiger hundert Tote. Das war wohl nie eine Option. Die Zahl der möglichen Corona-Toten in Deutschland wird erheblich größer sein, aber eben auch nicht unendlich groß.

Der Frage, welchen Preis dieses Land für welche und wie viele Menschenleben zu zahlen bereit ist, können Regierende und Abgeordnete nicht auf Dauer ausweichen. Sie werden diese Frage stellen müssen, sich selbst genauso wie dem Bürger. Diese Debatte nicht zu führen, den in Teilen unangenehmen offenen Diskurs zu scheuen, ist nicht vertrauensbildend - und könnte sich am Ende als kontraproduktiv erweisen.

Quelle: ntv.de

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