Zwischenruf Weitere Eskalation wahrscheinlich
07.07.2009, 15:20 UhrEs brodelt wieder einmal am Rande des Reichs der Mitte. Nach den Tibetern melden sich nun die Uiguren der Nordwestprovinz Xinjiang mit Forderungen nach mehr Autonomie. Der Konflikt entspringt der zentral gelenkten staatskapitalistischen Modernisierung. Einerseits hat der von Deng Xiaoping eingeleitete Prozess Millionen von Menschen eine durchgreifende Verbesserung ihres Lebensstandards beschert. Andererseits wurde die Schere zwischen Arm und Reich weit geöffnet; aus maoistischer Gleichmacherei wurde staatssozialistisch drapierter Entwicklungswahn. Tengs Losung "Bereichert euch!" wurde von vielen als Aufruf gewertet, mit allen Mitteln Kapital anzuhäufen. Einfachen Menschen wie Arbeitern und Bauern blieb der Zugang zum großen Geld zumeist verwehrt. Die Mehrheit der Reichen in der Volksrepublik hat in der einen oder anderen Form Beziehungen zum Establishment. Dazu gehörte auch die uigurische Aktivistin Rebiya Kadeer, die der KP und dem Volkskongress angehörte: Sie war eine der reichsten Frauen Chinas, bevor sie Ende der neunziger mit Peking brach.
Offenbar steht der von Kadeer geleitete Uigurische Weltkongress nicht hinter den gewalttätigen Protesten, wenngleich das in München ansässige Gremium die Demonstranten unterstützt. Der Protest scheint kaum koordiniert, spontan, ausgelöst durch ungeklärte Todesfälle uigurischer Arbeiter im han-chinesischen Süden. Die blutige Gewalt, mit der sich die Aktionen in der Provinzhauptstadt Ürümqi entluden, hebt die sozialen Widersprüche Chinas auf eine ethnische Ebene. Han-chinesischer Nationalismus wird zum Ventil für soziale Unzufriedenheit wie uigurischer Nationalismus Projektionsfläche für den Widerstand gegen einen als ethnisch "fremd" empfundenen Staatskapitalismus ist. Die Gegensätze zwischen Han-Chinesen und Uiguren haben zugleich Jahrhunderte alte Wurzeln. Im 18. Jahrhundert wurden die Uiguren von den in China herrschenden Mandschu unterworfen.
Einigendes Band der Demonstranten ist der sunnitische Islam, der zugleich eine nationsstiftende Funktion hat. Der Vorwurf der chinesischen Regierung, es handele sich um Terrorismus stimmt in der Fläche sicher nicht. Gleichwohl haben sich Uiguren den Terrornetzwerk Al-Kaida angeschlossen, von denen einige im US-Gefangenenlager in Guantánamo Bay befinden.
Eine weitere Eskalation des Konflikts ist wahrscheinlich, wobei sich die Zentralmacht zunächst als Schlichter zwischen den aufgebrachten Teilen von Uiguren und Han-Chinesen beweisen muss. Ein Mehr an Autonomie ist der Ausweg; dazu muss Peking im Lande lebende Kräfte als Partner gewinnen. Die Auslandsuiguren repräsentieren wie die Exiltibeter keine gangbare Alternative.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de