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Mehrgeschwindigkeits-Europa Zwischenruf

Von Manfred Bleskin

Verlauf und Ergebnisse des Gipfels der Europäischen Union in Brüssel sagen viel aus über den Zustand der Gemeinschaft.

Aus einem Zusammenschluss, der einst das hehre Ziel einer wirtschaftlichen und politischen Bruderschaft (West-) Europas verfolgte, ist ein Haufen Selbstsüchtiger geworden. Dem Einsatz für die Lehre aus Weltkrieg II, dass erfundene Erbfeindschaften zum Untergang von Kultur und Demokratie führen, ist einem Kreislauf beständiger Rivalität gewichen, in der jeder zuerst auf das eigene und dann, wenn überhaupt, auf das europäische Wohl bedacht ist. Die Verfassung ist vom Tisch, geblieben ist ein Zeitplan für einen Grundlagenvertrag samt einiger seiner Eckpunkte.

Dass es unter diesen Umständen gelungen ist, einen offenen Bruch zu vermeiden, grenzt auf den ersten Blick an ein Wunder. Beim zweiten Hinsehen wird klar, dass trotz aller Gegensätzlichkeiten für die Wirtschaft der Mitgliedsländer die Vorteile überwiegen. Das kittet zusammen wie Pech und Schwefel, auch wenn die bereits an einigen Stellen zu tropfen beginnen: In Ländern wie Rumänien und der Slowakei zeichnet wegen der Freizügigkeit auf dem so genannten Arbeitsmarkt ein erstzunehmender Fachkräftemangel ab.

Der Kompromiss bei der Stimmengewichtung erweckt den Eindruck, dass sich das Problem auf dem Wege der Lösung befindet. Das Misstrauen von Staaten wie Polen, Tschechien und Ungarn in das politische und ökonomische Gewicht der Kern-EU-Mitglieder aber bleibt. Gerade dort gewinnen rechtskonservative an Einfluss oder sind bereits an der Regierung, denen der Europagedanke wenig, die eigenen, nationalistischen Machtinteressen aber alles sagen. Ratspräsidentin hatte gedroht, es ginge auch ohne Polen. Glaubt jemand ernsthaft, dass sich die Kaczyński-Zwillinge nun vor Liebe zu Deutschland verzehren?

Brüssel 2007 war der dritte Schritt zur Institutionalisierung eines Mehrgeschwindigkeits-Europa. Der zweite war die schrittweise Einführung des Euro, die in den neunziger Jahren begann. Und der erste wurde 1985 mit dem Schengener Abkommen getan, das zehn Jahre später in Kraft trat. Was auch immer die geplante Regierungskonferenz beschließt: Das Ausnahmerecht Großbritanniens in Sachen Justiz und Polizei wird in praxi andere Mitgliedsstaaten animieren, gleiches Recht für sich zu reklamieren. Bei der Sozialgesetzgebung gilt dieses Prinzip ohnehin schon. Festlegungen sind mehr denn je auslegbar. In Zukunft können nationale Parlamente innerhalb von acht Wochen gegen beabsichtigte Rechtsakte der EU Einspruch erheben, falls sie meinen, dass sie nationale Zuständigkeit verletzen. Das ist der Anfang vom Ende einer europäischen Gesetzlichkeit.

Am Sitz der Europäischen Union wurde zuviel über Formalia gestritten, die Inhalte auf später verschoben. Einigung wurde erzielt, dass ein künftiger EU-Außenminister nicht mehr so heißen soll, sondern den sperrigen Titel „Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik“. Welche Außenpolitik aber soll er denn künftig hoch vertreten, wenn die Union schon jetzt in Willige und Unwillige gespalten ist, um nur bei der Irak-Frage zu bleiben?

Belgiens Außenminister Karel De Gucht hat den Gipfel so charakterisiert: „Die Verfassung hatte das Ziel, lesbar zu sein. Dieser Text hat das Ziel, möglichst unlesbar zu sein.“ Keine sichere Brücke, über welche die EU da in den nächsten Jahrzehnten schreiten will.

Quelle: ntv.de

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