Drei Os: Zipse, Blume, Källenius Fünf Gründe, warum die deutsche Autoindustrie viel stärker ist als gedacht
05.09.2023, 10:14 Uhr Artikel anhören
Die Prognosen für Deutschlands Autoindustrie waren vor Kurzem noch düster. Doch nun zeichnet sich eine überraschende Stimmungswende ab. Die deutschen Autobauer sind erstaunlich widerstandsfähig.
Der Riesenabsatzmarkt China schwächelt, neue Billig-Konkurrenz drängt aggressiv auf die Weltmärkte, die E-Auto-Revolution schwächt die deutsche Marktdominanz und Deutschlands Position als Industriestandort wankt. Aus der Autobranche hagelt es seit Monaten Kritik: enorme Energiepreise, zu viel Bürokratie, zu hohe Kosten, Digitalisierungsdefizite, eine schwache Bundesregierung, keine Rückendeckung mehr im Land. Crash-Propheten haben daher von Wolfsburg bis Stuttgart derzeit Konjunktur. Doch bei genauem Hinsehen zeigt sich eine hohe Resilienz der deutschen Autobauer. Auf der Messe IAA in München hört man plötzlich optimistische Töne. Es gibt fünf gute Gründe, die Hoffnung machen.
Erstens laufen die Geschäfte trotz Rezession, Inflation und E-Umbruch erstaunlich gut, jedenfalls viel besser als erwartet. In den ersten sieben Monaten wurden in Deutschland insgesamt gut 2,5 Millionen PKW produziert. Das entspricht einem Plus von 31 Prozent im Vergleich mit dem Vorjahreszeitraum. Besonders stark wächst die Produktion von E-Autos. Im ersten Halbjahr hat Deutschland in diesem Segment sogar die USA überholt.
Insgesamt entwickeln sich die Weltmärkte deutlich besser als noch im Frühjahr befürchtet. Der Verband der deutschen Autoindustrie VDA geht nun für das Jahr 2023 von einem Wachstum des PKW-Weltmarktes von 6 Prozent auf 75,7 Millionen Einheiten aus (bisher: plus 4 Prozent und 74,9 Millionen Einheiten). Deutschlands PKW-Export dürfte 2023 im Vergleich zum Vorjahr sogar um 16 Prozent auf knapp 3,1 Millionen Fahrzeuge ansteigen (bisher hatte man nur auf ein Plus von 10 Prozent auf 2,9 Millionen Einheiten gehofft).
Die positiven Indizien aus den Firmen häufen sich: BMW meldet für das zweite Quartal einen weltweiten Absatz von 553.369 Einheiten der Kernmarke BMW und damit ein Plus von 11,5 Prozent. Bei den Elektroautos ergibt sich glattweg eine Verdopplung des Absatzes. Mercedes meldet von April bis Juni mit 515.700 Einheiten sechs Prozent mehr Absatz als vor Jahresfrist. Auch Volkswagen konnte die Umsatzerlöse im ersten Halbjahr um insgesamt 18 Prozent auf 156,3 Milliarden Euro steigern.
Und auch beim Gewinn sind alle drei Großen auf der Erfolgsspur. Die Wolfsburger melden im ersten Halbjahr 2023 ein operatives Ergebnis vor Bewertungseffekten von 13,9 Milliarden Euro, ein Plus von rund 13 Prozent. Der Stuttgarter Autobauer konnte seinen Reingewinn im ersten Halbjahr auf 7,7 Milliarden Euro steigern. Das entspricht einem Plus von ebenfalls 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. BMW schraubte seinen Nettogewinn bereits im Vorjahr um satte 49 Prozent auf 18,6 Milliarden Euro nach oben. Bei Mercedes war der Betriebsgewinn um 28 Prozent auf 20,5 Milliarden Euro emporgeschnellt. BMW wie Mercedes heben die Prognosen für das Gesamtjahr 2023 nun sogar an. Der im Frühjahr noch befürchtete Einbruch bleibt aus.
Zweitens sind die großen deutschen Autokonzerne supersolide finanziert, gewinnstark und an den Börsen unterbewertet. Das mindert Sonderrisiken durch Finanzfaktoren und schafft eine starke Basis für künftige Investitionen. Sowohl BMW als auch Mercedes verdienen besser als Tesla. Beide Premiumhersteller sind an den Börsen sehr konservativ bewertet. Die Tesla-Aktie ist - gemessen am Gewinn - zehnmal so teuer. Dort lauert ein erhebliches Rückschlagrisiko.
Die Deutschen hingegen könnten auch eine weitere Krise souverän bewältigen. Mit 50 Milliarden Euro Nettogewinn im Geschäftsjahr 2022 stehen BMW, Mercedes, Volkswagen und Daimler Truck für knapp 45 Prozent des Gewinns aller 40 DAX-Konzerne. Mit etwa 17,5 Milliarden Euro haben die Autobauer so viel an ihre Aktionäre ausgezahlt wie noch nie. Tendenz steigend: Mercedes erwirtschaftete im zweiten Quartal einen operativen Gewinn von knapp fünf Milliarden Euro. Die Rendite wuchs weiter und lag bei starken 13 Prozent - Spitzenwert unter den verglichenen Herstellern. Die Umsatzrendite von BMW kletterte auf 11,7 Prozent nach 9,9 Prozent im Vorjahreszeitraum. Die Münchner und die Stuttgarter schlagen damit derzeit die gesamte Weltkonkurrenz und sind jetzt - trotz aller Unkenrufe - die profitabelsten Autobauer der Welt.
Drittens sind deutsche Autos globale Luxusmarken erster Güte geworden. Die langfristige Marketingstrategie, auf hohe Qualität und Premium zu setzen, zahlt sich aus. Dies führt dazu, dass die deutschen Hersteller besser vor billigem Wettbewerb geschützt sind und viel höhere Margen durchsetzen können.
Ähnlich wie die französische und italienische Luxuskonsumgüter haben sich auch deutsche Autos eine eigene Markenwertigkeit erarbeitet. Die Begehrlichkeit von aufstrebenden Eliten, sich ein deutsches Auto leisten zu können, ist rund um den Globus enorm groß. Es geht nicht mehr um PS, Spaltmaße und Verbrauchswerte, die Deutschen haben sich von ihrer eigenen Kerndisziplin, der technischen Ingenieursleistung, emanzipiert und verkaufen heute Exklusivität, Stil und Markenwelt. Das kann dauerhaft so funktionieren wie beim wertvollsten Konzern an europäischen Börsen LVMH - eine krisenresiliente Markensammlung von Louis Vuitton über Dior bis Tiffany.
Mercedes-Chef Ola Källenius hat unter dem Slogan "The Economics of Desire" die neue Mercedes-Luxus-Strategie nach LVMH-Vorbild profiliert. Andere Marken wie BMW, Audi oder Porsche gehen diesen Weg schon länger und folgen den Erfolgsgeheimnissen der Modebranche. Für die deutschen Automarken ergibt sich daraus eine perfekte Positionierungschance - sie können trotz sinkender Stückzahlen mehr verdienen. Nur für manche Autozulieferer wird die Luft dünner.
Viertens erobern sich die deutschen Hersteller gerade erstaunliche Marktpositionen im E-Auto-Segment, auch weil sie innovativ und technisch ambitioniert sind. Allein von 2023 bis 2027 investiert die deutsche Autoindustrie 250 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung, insbesondere in E-Mobilität. Nach einer IFO-Studie zu "grünen Qualifikationen" ist Deutschlands Autoindustrie für den anstehenden Strukturwandel besser gerüstet als vielfach angenommen. Demnach ist der Anteil der Beschäftigten in der Industrie, die für Technologien wie Elektromotoren oder Batteriezellen qualifiziert sind, in Deutschland außergewöhnlich hoch. Auch bei den Patentanmeldungen in Bereichen wie Elektromobilität oder Brennstoffzellenantrieb führt Deutschland international mit Abstand vor allen anderen Wirtschaftsnationen. Die Zahl "grüner" Patente steigt rasant.
Die neue deutsche E-Dynamik wird bereits sichtbar: So hat sich Volkswagen die Spitzenposition bei reinen Elektroautos in Deutschland von Tesla zurückerobert. Mit 41.475 Erstzulassungen in den ersten sieben Monaten des Jahres schob sich die Wolfsburger Marke vor den US-Konkurrenten. Der Trend dürfte sich verstärken, denn 2024 werden die deutschen Hersteller weltweit 160 verschiedene E-Modelle anbieten.
Auch beim Thema Kreislaufwirtschaft sind die deutschen Autobauer inzwischen Vorreiter. Fahrzeuge ressourcenschonend herzustellen, lange und effizient zu nutzen, reparieren und recyceln - das wird zu einem neuen Vorsprung durch nachhaltige Technik.
Fünftens hat die deutsche Autoindustrie an der Spitze eine personell glückliche Konstellation. Alle drei Konzerne verfügen derzeit über außergewöhnlich starke CEOs. Die drei sind offensive Macher und Integratoren zugleich, sie treiben ihre Häuser voran und denken in modernen Kooperationsstrategien, wenn sie den Wettbewerb gegeneinander antreten. In der Branche ist bereits von "den drei Os" die Rede. Oliver Zipse (BMW), Ola Källenius (Mercedes) und Oliver Blume (VW).
Sie ähneln sich in ihrer offensiven Intelligenz und könnten die deutsche Autoindustrie zu neuer, kollektiver Stärke führen. Die Industrie, die lange innerlich zerstritten und neidisch war, formiert sich gerade - auch unter der geschickten Ägide der Verbandschefin Hildegard Müller und mit strategischen Kommunikatoren wie Maximilian Schöberl - konstruktiv neu.
Die drei Os und ihre Teams geben der Autoindustrie ein sympathisches Gesicht. Die Deutungsmacht von Klimaklebern und Autokritikern jedenfalls schwindet, gerade in der jungen Generation. Die neuen Zahlen zeigen: In Deutschland gab es noch nie so viele junge Leute unter 25 mit einem eigenen Auto wie heute. Die Popularität ist in der Realität viel größer als in der gefühlten Medienwirklichkeit. Auch das macht die Industrie insgeheim optimistisch.
Quelle: ntv.de