
Michael Kretschmer vor drei Jahren auf dem äußeren Ende einer barocken Sofakante in Moskau.
(Foto: Michael Kretschmer, Instagram)
Nicht nur in der SPD macht man mit Friedensgefühlen Wahlkampf. Die Deutschen haben vergessen, was Gewalt eigentlich bedeutet. Zugleich hat die Gewalt in Deutschland nur wenig erklärte Feinde.
In Deutschland ist ein Phänomen zu beobachten. Es sieht aus wie Friedenssehnsucht, ist aber eigentlich ein Wahrnehmungsphänomen: Viele können keine Gewalt sehen - sie scheint unsichtbar. Es scheint unvorstellbar, dass ein Mensch einem anderen einfach so bedingungslos Gewalt antut. Wir erkennen so etwas daher nicht als das an, was es ist, und suchen nach Rechtfertigungen. Nach dem Motto: Es wird schon Gründe geben. Man könnte dieses Phänomen Gewaltblindheit nennen.
Für den Befund dieser deutschen Überforderung muss man einmal mehr Rolf Mützenich am Schlafittchen in die Kolumne zerren, der ja bekanntlich die russische Invasion in der Ukraine "einfrieren" möchte. Mützenich sieht offensichtlich nicht die Gewalt, die Russen in den besetzten Gebieten verüben. Er sieht nicht die Gefahr, dass er Russland zu weiteren Überfällen ermuntert. Er ist noch immer, nach allem, was geschehen ist: gewaltblind.
Diese Gewaltblindheit ist kein sozialdemokratisches Phänomen und auch keines etwa nur des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), wo sich Putin-Versteher und Friedensbeseelte zu einer immerhin 15 Prozent-Partei (Thüringen) zusammenkneten. Sie trifft auch einen CDU-Ministerpräsidenten, nämlich Michael Kretschmer.
17-mal "kriegstüchtig"
Zur Erinnerung: Kretschmer ist jener Politiker, der kürzlich noch kerzengerade in Moskau am äußeren Ende einer barocken Sofakante saß, über einen nikotingelben Telefonhörer Putins Stimme an sein Ohr hielt und dabei aussah wie ein schüchterner Sechsjähriger, der seiner Oma vom ersten Schultag erzählt.
Am Donnerstag also sang dieser Kretschmer dem NATO-Bündnis zum 75. Geburtstag ein verblüffendes Ständchen: "Der Nordatlantikvertrag enthält 6-mal das Wort #Frieden", analysierte Michael Kretschmer auf X. Er komme ohne das Wort "Krieg" aus. Die neuen Pläne der Ampel für die Bundeswehr dagegen bräuchten "angeblich 17-mal das Wort ‘kriegstüchtig’". Deutschlands Sicherheitspolitik müsse sich von "Verteidigungsbereitschaft" leiten lassen. Zum Krieg solle Deutschland sich nicht rüsten.
Kretschmer schließt dann mit einem Dreiklang: "Sicherheit ja, Abschreckung ja, Krieg nein." Das wirft Fragen auf: Wie genau verteidigt man sich denn, wenn man angegriffen wird, aber keinen Krieg führen will? Kretschmer lebt in einer Welt, in der es keine Gewalt gibt, wenn man sie nicht will. Er ist gewaltblind.
Vielleicht lag es ja an ADHS
Gewaltblindheit und das surreale "Sicherheit ja, Krieg nein" scheint auch das Motto vieler deutscher Nahost-Kommentatoren zu sein. Die Empörung über Israels Vorgehen im Gaza-Streifen ist groß und in vielen Aspekten berechtigt - aber einen brauchbaren Vorschlag, wie genau das Land sich gegen ein abermaliges Massaker durch die Hamas-Terroristen und Raketenhagel aus dem Gaza-Streifen verteidigen sollte, hört man nicht. Seit Jahren scheinen Teile der Öffentlichkeit blind dafür zu sein, wenn Palästinenser Gewalt verüben - was dazu führt, dass die israelischen Reaktionen die Schlagzeilen anführen, vorangegangene Messerattacken und Raketenangriffe aber eher am Rande erwähnt werden.
Die Gewaltblindheit ragt bis auf Schlägerei-Ebene: Am 2. Februar wurde der jüdische Student Lahav Shapira vor einer Bar in meiner Nachbarschaft verprügelt, durch einen Tritt ins Gesicht brachen ihm dort die Knochen, die Nase, und blutete es in seinem Gehirn. Die "Süddeutsche Zeitung" macht sich nun auf Spurensuche - aber vor allem nach Erklärungen, dass diese Gewalt nicht aus dem Nichts gekommen sein könnte.
Die Autorin hat also den Arztbericht gelesen, darin allerdings auch entdeckt - na, sowas! -, dass Shapira auch ADHS habe (oder ADS, das bleibt etwas unklar), also eine Aufmerksamkeitsstörung. "Das dürfte noch eine Rolle spielen", ist sich die SZ da sicher und dann geht es um dies und jenes Charakterliche, etwa, dass Shapira zornig sei und gern provoziere, das jedenfalls dächten "manche", wer auch immer "manche" sind.
Wie das so ist, eine Faust im Gesicht
So einer, soll man nach diesem Text wohl denken, hat so einen Fuß im Gesicht womöglich ein bisschen mitverursacht, wenn nicht gar verdient. Es scheint der SZ unvorstellbar, dass andere Menschen schiere Gewalt und Aggression anwenden, ohne dass es dabei mit gesamtgerechten Dingen zugeht. Sie ist gewaltblind. Es scheint sie außerdem zu befremden, dass man sich der Gewalt auch kämpferisch, nicht weinerlich entgegenstellen kann. Als Shapira mit zermanschter Visage im Krankenbett liegt, zeigt er dem Fotografen grinsend den Mittelfinger.
Offenbar haben manche von uns vergessen, was das eigentlich ist, ein Angriff. Wie das so ist, eine Faust im Gesicht. In Selbstverteidigungskursen kann man das erfahren: Es ist - vor allem verwirrend, überfordernd. Jedenfalls beim ersten Mal und das ist vermutlich der ganze Trick. Deutschland kennt das Gefühl nicht mehr.
Die Verteidigung Deutschlands schien uns als edles, vor allem aber angenehm theoretisches Szenario. Wurde dieser sterile Blick auf Soldaten, Waffen und Krieg doch einmal gestört durch, sagen wir, russischen Krieg in Georgien, Krim-Annexion oder durch tote deutsche Soldaten bei Auslandseinsätzen, dann hat man das weggeachselzuckt. Und sich umso fröhlicher aufgeregt, wenn die Bundeswehr etwas zu laut für Nachwuchs wirbt oder ein bisschen medienfremd darauf besteht, mit Fackeln vor dem Reichstag herumzulaufen. Deutschlands letzte Gewalterfahrung war eben eine, die es sich redlich verdient hatte - und das prägt offenbar die Wahrnehmung, auch knapp 80 Jahre später.
Gewalt hat wenig Feinde
Deshalb zahlt sich für Olaf Scholz der Kurs "Diplomaten statt Granaten" aus, auch wenn ihn die "New York Times" gerade international zu den unbeliebtesten westlichen Führungspersönlichkeiten zählt. Aber was kümmert den Sozialdemokraten Amerika? Er hat die als Friedensfreude missverstandene Gewaltblindheit in der Bevölkerung erkannt, unser Unvermögen, mit der Faust im Gesicht zu rechnen. Kretschmer nun zeigt, dass auch die CDU in diesem Kampagnenhandbuch zu stöbern beginnt. Die Union ist insgesamt jenseits weniger, dahingehend stets engagierter Politiker wie Roderich Kiesewetter und Nobert Röttgen auffallend still.
Die Gewalt hat in Deutschland also keine Fans, aber auch sehr wenig erklärte Feinde. Zu diesen wenigen gehören ausgerechnet die vermeintlich verweichlichten Grünen, wie gerade Claudius Seidl präzise in der FAZ analysierte. Aber wie soll man sich auch gegen etwas wappnen, das man gar nicht sehen kann?
Was macht Deutschland eigentlich, wenn es eine Faust im Gesicht hat, weil "Sicherheit ja, Krieg nein" nicht so gut geklappt hat? Setzt es sich dann an die russisch gewordene Sofakante und notiert über den Telefonhörer die neue Gebietsaufteilung? Oder kriegt es noch einen Mittelfinger zur Kamera gehoben?
Quelle: ntv.de