Atom-Moratorium "Am Rande der nuklearen Hysterie"
16.03.2011, 21:20 UhrAngela Merkel setzt das Gesetz zur Verlängerung der AKW-Laufzeiten für drei Monate außer Kraft. Atom-Gegner freut's. Doch Juristen und Oppositionspolitiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr. Die Kanzlerin sollte wahltaktische Gebärden lassen und auf den Boden des Verfassungsrechts zurückkommen.
"Woher droht urplötzlich denn so akute Gefahr, dass geltende Gesetze eben mal wie in der Weimarer Republik suspendiert werden müssen? Ist Deutschland über Nacht zu einem Tsunami-Erwartungsgebiet geworden?", fragt der Münchner Merkur kritisch. Es sei schon richtig, dass Deutschland in einem Ausnahmezustand sei, "aber nur in einem emotionalen, und den hat die Kanzlerin durch ihr hektisches Handeln am Rande der nuklearen Hysterie selbst mit herbeigeführt", konstatiert das Blatt weiter. Bereits "mit ihrer Euro-Rettungspolitik am Bundestag vorbei und dem Marsch in die Schuldenunion" habe Angela Merkel "die Grenzen ihrer Kompetenzen getestet. Es ist höchste Zeit, dass die Bundeskanzlerin auf den Boden des Verfassungsrechts zurückkehrt."
Ist der von der Bundesregierung verkündete befristete Verzicht auf die Verlängerung der AKW-Laufzeiten rechtlich überhaupt zulässig? Darüber streiten Juristen und Politiker des Landes. Die Cellesche Zeitung greift dabei eine Aussage Norbert Lammert auf: "'Die Exekutive kann nicht Gesetze außer Kraft setzen.'" Der Bundestagspräsident sehe damit die Gewaltenteilung in Deutschland in Gefahr. Daraufhin "musste Regierungssprecher Steffen Seibert eilig klarstellen, das schwarz-gelbe Gesetz zur Verlängerung der Restlaufzeiten für AKW sei zwar 'weiter in Kraft', werde aber 'faktisch' nicht angewandt." Das Blatt ist der Meinung, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung "mit dem 'faktischen' Moratorium zufrieden sein" dürfte.
Die Südwest-Presse erinnert: "Die schwarz-gelbe Koalition hat die längeren Laufzeiten im Atomgesetz festgeschrieben. Stilllegen ist nur in einer Notlage möglich." Diese existiere jedoch für deutsche Anlagen nicht - zum Glück. Daher, so das Blatt aus Ulm weiter, dürften die das vorübergehend beschlossene Ende für die deutschen AKWs lediglich "als Absichtserklärung werten". Denn "alles andere erfordert eine Novelle des Atomgesetzes. Diese könnte Angela Merkel im Parlament durchsetzen. Was aber von dem Moratorium in drei Monaten übrigbleiben wird, lässt sie inzwischen offen. Unbedachte Schnellschüsse zeugen deshalb vielleicht von Durchsetzungsabsicht. Mit Durchsetzungskraft sollten die Wähler dies nicht verwechseln."
Ganz ähnliche Töne schlägt die Frankfurter Rundschau an: "Wie viel Ausstieg im Moratorium steckt, das ist noch lange nicht ausgemacht. Schon jetzt sind diejenigen wieder unterwegs, die nach den drei Monaten gern großenteils so weitermachen würden wie bisher. (...) Man mag Rot-Grün die Kompromisse ankreiden, die sie beim Ausstieg damals schlossen." Doch das ändere laut dem Blatt nichts an folgender Tatsache: "In Deutschland gibt es eine gesellschaftliche Mehrheit, die Fukushima nicht brauchte, um das 'Unwahrscheinliche für wahrscheinlich zu erklären' und den Ausstieg zu befürworten." Die deutsche Regierung aber agiere gegen diese Mehrheit. Daran lasse auch das Moratorium keinen Zweifel. Das Blatt schlussfolgert: "Wer sicher gehen will, hat mit Schwarz-Gelb keine gute Wahl."
Auch die Freie Presse bewertet das Moratorium unter wahlpolitischen Aspekten. Seit der Kehrtwende der Regierung in der Atompolitik sei die Opposition "in der misslichen Lage, dass Merkel sie kurz vor den Wahlen in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg ausgebremst hat". Denn nun könnten SPD, Linke und Grüne nicht mehr "freudig zum Angriff blasen". Dieses Geschenk habe ihnen Merkel nicht gemacht, bemerkt das Blatt aus Chemnitz. "Lieber verrenkte sich die CDU-Vorsitzende um 180 Grad, ignorierte juristische Bedenken und verkaufte am Ende ihr Atom-Moratorium als besonnene Politik."
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Julia Kreutziger