Pressestimmen

Grubenunglück in der Türkei "Soma könnte Erdogan in Bedrängnis bringen"

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Nach dem verheerenden Grubenunglück in der Türkei schwindet die Hoffnung auf eine Rettung der noch unter Tage eingeschlossenen rund 120 Kumpel. Die Zahl der Toten stieg bis Mittwochnachmittag auf 238, wie Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Unglücksort in Soma in der Westtürkei sagte. Dort kündigte er umfassende Ermittlungen an und versprach, "keine Nachlässigkeit" zu dulden. Viele Türken sehen in der Gruben-Katastrophe jedoch mehr als ein Unglück. In Ankara und Istanbul gehen Tausende gegen Erdogan auf die Straße. Auch in der deutschen Presse herrscht Misstrauen gegenüber der türkischen Regierung.

Bergbau ist riskant. Tragödien sind immer möglich. "Aber ist der Tod von Bergleuten bloßes Schicksal, wie der türkische Premier Erdogan 2010 nach einem Unglück am Schwarzen Meer sagte?", fragt die Landeszeitung Lüneburg. "Nicht nur die türkische Opposition verneint diese Frage. Wenn sich Tragödien häufen, ist meist der Mensch schuld. So sorgt die Vetternwirtschaft in Russland, China und eben auch der Türkei dafür, dass nicht diejenigen mit dem größten Sachverstand Bergbauunternehmen leiten, sondern die, die den Mächtigen am nächsten stehen. Gier sorgt dafür, dass die Förderkosten wie in Soma immer mehr gedrückt werden, obwohl die Schächte zumeist immer tiefer geteuft werden müssen. Am Ende wägen immer Menschen ab, was für sie mehr zählt: der Profit oder der Mensch."

Die Katastrophe hat solche Dimensionen, dass die Türkei auf der Liste der Arbeitsunfälle mit Todesfolge, die von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO geführt wird, vom dritten auf den zweiten Platz geklettert ist. Was sind die Gründe dafür? "Erstens: Privatisierungen; zweitens: Ausweitung von Flexibilisierung, Werkverträgen und Leiharbeit; drittens: Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen; viertens: Profitgier", antwortet die Junge Welt. "Wie apokalyptische Reiter sind diese vier in den meisten Bergwerken und Werften, auf Baustellen, in Häfen, Fabriken und kleineren Betrieben unterwegs. Manchmal treten sie einzeln, zumeist aber gemeinsam auf, und sie haben Gesichter und Namen: Vertreter der Regierung und der bürgerlichen Parteien, die sich für Privatisierung und Leiharbeit einsetzen; Unternehmer, die für Gewinnmaximierung Bestimmungen für Arbeitsschutz und -sicherheit außer Kraft setzen."

"Erst zwei Wochen vor dem Unfall forderte die Opposition einen Untersuchungsausschuss über die Zustände in den Kohleminen von Soma", erinnert die Frankfurter Rundschau, "doch die islamisch-konservative AKP lehnte den Antrag ab. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat auf Kritik der Opposition und der Gewerkschaften wegen mangelnder Arbeitssicherheit im Land mit dem Hinweis auf die Arbeitsschutzgesetze und das schicksalhafte Walten Gottes. Sollten sich die Vorwürfe gegen den Minenbesitzer von Soma erhärten, dann könnte das Unglück Erdogan mehr in Bedrängnis bringen als alle Korruptionsanklagen."

"Da in der Türkei niemand eine Ausschreibung ohne Plazet von oben gewinnt, fällt jeder Regelverstoß auf den Chef selbst zurück", führt die Berliner Zeitung weiter aus. "Die Korruption hat Erdogans Wähler kalt gelassen, der Tod von Arbeitern wird das nicht tun. Da der Premier im August zum Staatspräsidenten gewählt werden möchte, könnte es sein, dass ihm das Schicksal einen kräftigen Strich durch die Rechnung macht."

Wenn es einen Funken Hoffnung gibt, dann ist es für den General-Anzeiger aus Bonn die Reaktion vieler jungen Türken. Sie weigern sich, Unglücke wie die von Soma als Schicksal hinzunehmen. Und sie zeigten am Tag nach dem Unglück mit Demonstrationen und Protestmärschen, dass sie sich selbst und ihre Landsleute nicht mehr von geldgierigen Unternehmen verheizen lassen wollen, ohne dass der Staat etwas dagegen unternimmt.

Zusammengestellt von Anna Veit

Quelle: ntv.de

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