Die Frage nach dem Doping Biedermann, der Übermensch?
29.07.2009, 10:19 UhrDer neue deutsche Schwimmstar heißt Paul Biedermann. Gestern hat er bei den Weltmeisterschaften in Rom den 14-fachen Olympiasieger Michael Phelps über 200 Meter Freistil nicht nur geschlagen, sondern deklassiert. Es war Biedermanns zweiter Weltrekord im zweiten WM-Rennen, schon über 400 Meter Freistil hatte seinen eigenen deutschen Rekord um sechs Sekunden verbessert. Wie kann das sein?

Er könne sich nur wiederholen: "Ich bin sauber", sagt Paul Biedermann. Dennoch fragen sie Experten, wie so eine Leistungssteigerung möglich ist.
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Eine Analyse von Christoph Wolf
Auch wenn es nicht in die Jubelstimmung passt: Erinnern Sie sich noch an den 20. April? Nur vage? Am 20. April erklärte der Dopingopfer-Hilfeverein, der Deutsche Schwimmverband (DSV) betreibe Anstiftung zum Doping. Ein schwerer Vorwurf mit folgendem Vorlauf: Der DSV hatte kurz zuvor seine WM-Normen bekanntgegeben. Das Problem an den geforderten Zeiten aus Sicht des Dopingopfer-Hilfevereins: Auf 14 Strecken musste bei den Deutschen Meisterschaften im Juni in Berlin der bestehende Deutsche Rekord unterboten werden, um an der Weltmeisterschaft in Rom teilnehmen zu dürfen.
Entsetzlicher Zorn hier, Gleichgültigkeit da
"Mit Entsetzen und mit großem Zorn" habe der Hilfeverein zur Kenntnis genommen, dass nach dem Willen der DSV-Führung, insbesondere von Sportdirektor Lutz Buschkow und Bundestrainer Dirk Lange, die Normzeiten für die Qualifikation WM "so hoch wie noch nie angesetzt worden sind". Das Fazit des Dopingopfer-Hilfevereins war eindeutig: "Wir bewerten die Haltung des DSV deshalb als Anstiftung zum Doping und in einem Sport mit zumeist minderjährigen Leistungssportlern als besonders verwerflich."
Der DSV ließ den Vorwurf ungerührt abperlen, die Forderung nach "menschlichen Normzeiten" verhallte folgenlos. Schließlich, argumentierte Bundestrainer Lange, bringen weiche Normen nichts, wenn die Aktiven bei der WM dann baden gehen. Seine klare Ansage: "Wir wollen keine WM-Touristen." Sportdirektor Buschkow verwies darauf, man habe sich bei den Zeiten lediglich an "möglichen unteren Halbfinalergebnissen" orientiert. Mit Blick auf Olympia 2012 in London werde man die Ansprüche weiter nach oben treiben.
Das wird auch nötig sein, schließlich wurden die Deutschen Meisterschaften in Berlin Ende Juni nicht zum befürchteten knallharten Auswahlverfahren für die Welttitelkämpfe in Rom, sondern zu einem Rekordfestival. 16 deutsche Bestmarken, sechs Europarekorde und drei Weltrekorde standen letztlich zu Buche, die vermeintlich unmenschlichen Normzeiten gerieten ganz offensichtlich zur Motivation für schier unglaubliche Zeiten.
Doping als Glaubenssache
Statt mit einer Rumpftruppe reiste der DSV mit Medaillenkandidaten nach Rom. Bedenken ob der überraschenden Leistungsentwicklung wurden bestenfalls sporadisch laut, warum auch: Die umstrittenen Wunderanzüge boten und bieten doch eine allzu plausible Erklärung für die "Freak Show" im Becken, die immer neue Weltrekordfluten produziert. Die unweigerliche Frage, ob nicht auch in den Anzügen Freaks stecken, blieb unbeantwortet. Und auch wenn es die Nachrichtenagenturen im April anders vermeldeten: Eine Dopingdebatte im Schwimmsport hat die Pressemitteilung des Dopingopfer-Hilfevereins keinesfalls ausgelöst.
Wirkliche Debatten um illegale Leistungssteigerungen im Sport haben überdies eindrucksvoll gezeigt, dass Doping letztlich Glaubenssache ist. Während jeder zweite Deutsche Claudia Pechstein trotz belastender Indizien und der verhängten Sperre durch den Eisschnelllauf-Verband für sauber hält, gilt die Tour de France vier von fünf Bundesbürgern noch immer als verseucht. Beleg dafür sind auch die bislang fehlenden positiven Proben, die im Radsport entweder auf lasche Kontrolle oder ein perfektes Betrugssystem verweisen – oder beides. Gleichzeitig gibt es in der Öffentlichkeit den blinden Glauben daran, dass die angeblich in französischen Mülleimern gefundenen Medikamentenpackungen tatsächlich von Tour-Teilnehmern dort hinterlassen wurden. Was Lipgloss und Polyurethananzüge alles ausmachen können.
Leistungssprung im Wasser
Doch zurück zum Schwimmen, zurück zu Deutschlands neuem Liebling Paul Biedermann und seinen beiden Weltrekorden. Aufgestellt hatte Biedermann die bisherige Bestmarke erst im Juni in Berlin, in einem veralteten Anzug aus dem Jahr 2008. Vor Biedermann hieß der deutsche Rekordinhaber Uwe Daßler. Seine Bestmark hatte fast 21 Jahre lang Bestand gehabt.
Nach seinem WM-Sieg über 200 Meter Freistil schwärmte ARD-Expertin Franziska van Almsick hemmungslos, Biedermann sei schwimmerisch einfach besser gewesen als Phelps. Britta Steffen quietschte verzückt, der um 1,22 Sekunden distanzierte "Übermensch" Phelps sei von Biedermann vorgeführt worden. Wohl aus purem Respekt vor der Leistung des Deutschen verzichtete Phelps nach dem Rennen darauf, dem neuen Weltmeister noch im Becken zu gratulieren.

Biedermanns Leistungssteigerungen seien trainingswissenschaftlich nicht zu erklären: sagt Manfred Thiesmann, ehemaliger Bundestrainer.
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Neutrale Beobachter lassen Biedermanns Leistungen in diesem Jahr jedoch vor allem ratlos zurück. Anfang des Jahres nach eigenen Angaben noch durch Pfeiffersches Drüsenfieber zu einer wochenlangen Trainingspause gezwungen und zudem durch uralte Startblöcke in der Trainingshalle gehandicapt, schwimmt der 22-Jährige nun allen davon, pulverisiert seine eigenen Bestmarken nach Belieben, knackt Weltrekorde. Der langjährige Bundestrainer Manfred Thiesmann sagte dem "Tagesspiegel", Biedermanns Leistungssteigerungen seien trainingswissenschaftlich nicht zu erklären – vor dessen zweitem Fabelrekord in Rom. Biedermann selbst sagt dazu, was auch Alberto Contador wie ein Mantra wiederholt: "Ich bin sauber."
ARD: Fina vernachlässigt Kampf gegen Doping
Doch so unerklärlich wie der Biedermann’sche Leistungssprung ist auch, was die ARD zutage förderte. Nach Recherchen der sendereigenen Dopingredaktion vernachlässigt der Schwimm-Weltverband Fina den Kampf gegen Doping seit Jahren. Unter Verweis auf offizielle Fina-Statistiken legte die ARD dar, dass seit 2003 insbesondere die Zahl der Bluttests und der Trainingskontrollen unmittelbar vor Weltmeisterschaften auf Null gesunken sei. Sehr erfreulich für die Fina: Die Zahl der Dopingfälle im Schwimmsport hat sich 2005 antiproportional zur Zahl der Weltrekorde entwickelt, von 23 im Jahr 2005 auf bislang drei in diesem Jahr.
Auch in Rom wird es nach ARD-Informationen keine Blutkontrollen geben, wie schon bei den Weltmeisterschaften 2005 und 2007. Damit verzichtet die Fina bewusst darauf, Dopingsubstanzen wie Wachstumshormone nachweisen zu können. Über deren Gebrauch wird im Schwimmsport nicht nur angesichts enormer Muskelberge wie beim französischen Asthmatiker Alain Bernard oder auch bei Paul Biedermann, riesiger Hände, Füße und Kinnpartien wie beim Australier Ian Thorpe oder beim segelohrigen Michael Phelps diskutiert. Schon 1998 wurde bei der WM in Perth eine chinesische Schwimmerin mit Wachstumshormonen im Gepäck erwischt.
Die Konsequenzen, die die Fina daraus gezogen hat, offenbaren einen überaus pragmatischen Ansatz zur Lösung des Dopingproblems, der in leicht abgewandelter Form auch in Spanien erfolgreich praktiziert wird, dort allerdings sportartübergreifend. Die "Süddeutsche Zeitung” nennt Ross und Reiter und spricht von einer subtilen Einladung zum Doping. Doch was im Radsport zu öffentlicher Empörung führen würde, wird im Schwimmen achselzuckend hingenommen. Der beste Beleg dafür ist der 20. April. Erinnern Sie sich noch?
Quelle: ntv.de