Der Favorit wackelt, aber fällt nicht Boy triumphiert bei Turn-EM
08.04.2011, 20:45 UhrDank Publikumsliebling Philipp Boy feiern die deutschen Turner einen goldenen Start in ihre Heim-Europameisterschaft. Trotz eines Fehlstarts am ersten Gerät und weiterer Wackler, krönt sich der 23-Jährige erstmals zum Mehrkampf-Titelträger. Er tritt damit die Nachfolge des verletzten Superstars Fabian Hambüchen an.
Die Nerven haben letztlich gehalten, doch der Schritt aus dem Schatten des "Mythos Hambüchen" ist schwergefallen: Philipp Boy hat sich bei den Titelkämpfen in Berlin erstmals in seiner Karriere zum Europameister im Mehrkampf gekrönt. Für den 23-Jährigen ist es das erste Einzel-Gold überhaupt bei einer Großveranstaltung und dennoch ein Titel, den das begeisterungsfähige Publikum in Berlin von ihm erwartet hatte. Nach Mehrkampf-Silber bei der WM 2010 galt Boy als einer der Favoriten auf Gold. Die glänzende Qualifikation am Donnerstag, die er vor Teamkollege Marcel Nguyen gewann, hatte auch nicht dazu beigetragen, die hohen Erwartungen zu dämpfen.
In einem Wettkampf, der das Publikum weniger durch seine Klasse als durch seine Spannung fesselte, lag Boy am Ende mit 88,875 Zählern winzige 0.050 Punkte vor dem Rumänen Flavius Kosczi. Platz drei und damit Bronze gingen an die punktgleichen Daniel Purvis (Großbritannien) und Mykola Kuksenkov (Ukraine) mit jeweils 88,350 Zählern. Der deutsche Mehrkampfmeister Nguyen (87,550) brachte sich mit einem Sturz am Reck um einen Podestplatz. Bis dahin klar auf Medaillenkurs liegend, fiel Nguyen nach dem Kovacs-Salto vom Reck und blieb für Sekunden regungslos auf der Matte sitzen. Dass er am Ende nur Platz sechs belegte, nahm Nguyen gefasst auf: "Dann halt beim nächsten Mal."
Ein Traum wird wahr
Nicht mehr warten muss Philipp Boy. "Ein Traum ist wahr geworden. Ich habe noch nie so einen spannenden und krassen Wettkampf erlebt. Wahnsinn", kommentierte er den erst zweiten EM-Titel im Mehrkampf für einen deutschen Turner und erhob diesen 8. April 2011 in Berlin zum schönsten Tag seines Lebens. Den Premierentitel im Mehrkampf hatte Deutschlands langjähriger Vorturner Fabian Hambüchen 2009 gewonnen, dessen Erbe Boy damit antrat und aus dessen Schatten er so gern heraustreten möchte. In Berlin war der schier übermächtige "Mythos Hambüchen", wie Boy seinen Teamkollegen und Konkurrenten bezeichnet hat, malad und als TV-Reporter zum Zuschauen verdammt.
Krampf statt Gala
Hambüchen sah, wie sich Boy zum Titel kämpfte. Die Anmut und Leichtigkeit, die ihm 2010 die Auszeichnung als "elegantester Turner der WM" eingebracht hatte, war in Berlin nur phasenweise zu sehen. Der Weg zu Gold war für den Favoriten Boy keine triumphale Gala, sondern ein Krampf. "Ich habe so viele Fehler gemacht, aber ich habe mich durchgekämpft und bin für meinen Kampf mit dem Titel belohnt worden", sagte der 23-jährige Sportsoldat.

Die Kanzlerin ließ sich auch von ihrer Sportbefreiung nicht am Besuch der EM hindern.
(Foto: dapd)
Zur EM-Eröffnungsfeier hatte sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Max-Schmeling-Halle die Ehre gegeben. Sie kam nach ihrer Knieoperation auf Krücken. Wer darin ein Symbol sehen wollte, wird bestenfalls beim Zustand der deutschen Politik fündig. Den größten Beifall erhielt Merkel, als sie die EM offiziell für eröffnet erklärte. Die Zuschauer waren nicht gekommen, um Reden zu hören. Sie wollten deutsche Medaillen feiern. Zu recht, denn das deutsche Turnen schwimmt 200 Jahre, nachdem Friedrich Ludwig Jahn in der Berliner Hasenheide den ersten Turnplatz einrichtete, auf einer Erfolgswelle - die vor allem dank Boy auch in Berlin nicht brechen sollte.
"Horror" zu Beginn
Allerdings: Boy, dessen Spezialdisziplinen Reck und Boden sind, musste das Finale der 24 besten Mehrkämpfer am Pauschenpferd beginnen. Ein "Horror" für den 23-Jährigen. Hatte Boy die Qualifikation noch mit einem Dauerlachen bestritten, ging er den Mehrkampf sichtlich verkrampft an. Nach einer bis dahin hakligen Vorstellung am Pauschenpferd versuchten die Zuschauer dem Publikumsliebling zu helfen.
Es war Furcht und Hoffnung zugleich, dieses plötzlich anschwellende "Hoch!“ vor den finalen Elementen am Pauschenpferd. Ein sauberer Handstand und ein Abgang ohne Wackler hätten Boy die Übung noch halbwegs gerettet, doch beim Handstand fehlte die Kraft. Die Wertung von 13.825 Punkten – deutlich weniger als in der Qualifikation aber immerhin mehr als beim gestürzten russischen Mitfavoriten Maxim Dewiatowski – nahm Boy mit verkniffenem Gesicht auf. "Ein Dämpfer", nannte DTB-Sportdirektor Wolfgang Willam den Auftakt.
Kopf ist nicht frei
"Der Kopf muss frei sein", hatte Boy vor der EM immer wieder erklärt und angekündigt, sich keinen Druck machen zu wollen. Doch die Tatsache, dass er allein die 5000 Zuschauer in der Max-Schmeling-Halle zum Schweigen bringen und oder ins Schwelgen geraten lassen konnte, so wie in der Qualifikation, hemmte ihn immer wieder. Den gelungenen Darbietungen an den Ringen (14,625) und beim Sprung (15,95) folgte ein Patzer am Barren (14,20), als Boy beim Tippelt die Holme berührte und beim Abgang einen Hopser zeigte. Auch am Reck, seinem Paradegerät, turnte Boy nicht fehlerfrei.
Erst am Boden (15,15) fand er zur Souveränität der Qualifikation zurück. Der Ausfallschritt zum Schluss der ansonsten makellosen Übung mit einer Dreifachschraube auf der letzten Bahn reichte in der Endabrechnung hauchdünn zu seiner ersten Führung im Mehrkampf-Finale. Es war die entscheidende.
Quelle: ntv.de