Entnervt, düpiert, frustriert Carlsens Schach-Thron wackelt bedenklich
22.11.2016, 18:40 Uhr
Magnus Carlsen muss in den verbleibenden vier Partien schaffen, woran er bislang achtmal gescheitert ist: Er muss Sergej Karjakin schlagen.
(Foto: dpa)
Der beste Schachspieler der Welt? Ganz klar: Magnus Carlsen, einst Wunderkind, jetzt Weltmeister. Noch, denn bei der WM in New York verliert das Genie Carlsen die Nerven und Spiel acht. Nun hält Außenseiter Sergej Karjakin plötzlich alle Trümpfe in der Hand.
Im ungewohnten Gefühl der Niederlage wollte Magnus Carlsen nur noch weg. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf eilte der völlig entnervte Schachweltmeister aus dem Saal. Das eigentlich übliche Interview nach der Partie schwänzte er kurzerhand, und auch der Pressekonferenz blieb der 25-Jährige fern. Nein, reden wollte der amtierende Schach-Weltmeister nicht. Dafür saß der Frust über sein erschreckend schlechtes und überstürztes Spiel schlicht zu tief.
In der achten Partie des WM-Duells mit seinem stoisch defensiven und destruktiven Gegner Sergei Karjakin hatte er sich verzockt und die Nerven verloren. Die unerwartete Niederlage ist der negative Höhepunkt eines bislang verkorksten Duells. Carlsen spielt in New York deutlich unter seinem Niveau und so schlecht wie lange nicht. So könnte das im Vorfeld noch abwegige Szenario tatsächlich Realität werden: Dem Schach-Genie Carlsen droht der Verlust seines WM-Titels.
Carlsen findet keine Lücken

Sergej Karjakin ist mit seiner stoischen Defensivtaktik bislang der erfolgreichere Spieler bei der WM.
(Foto: AP)
Zwar sind noch vier Partien zu spielen, doch das Blatt hat sich spätestens jetzt zugunsten des russischen Außenseiters gewendet. Ganz gleich, was Carlsen bislang versucht hat, Karjakin hatte immer eine Antwort parat. Dazu kommen für Carlsen völlig untypische Fehler, die dem Herausforderer in die Karten spielen. Karjakin hält nun mit seiner ersten gewonnenen Partie, ausgerechnet mit dem vermeintlichen Nachteil der schwarzen Steine, alle Trümpfe in der Hand.
Mit 4,5:3,5 Punkten führt der 26-Jährige, der in der neunten Partie am Mittwoch zusätzlich den Vorteil der weißen Steine innehat. "Offenbar hat Magnus seine Stellung überschätzt. Er hätte auf Unentschieden spielen sollen, stattdessen wollte er auf Sieg gehen. Das hat ihn in Schwierigkeiten gebracht, er hätte sich besser verteidigen sollen", sagte Karjakin.
Zeitnot sorgt für Dramatik
Vor der ersten Zeitkontrolle im 40. Zug erhöhte der Weltmeister aus Norwegen in beiderseitiger Zeitnot das Risiko. Er opferte gleich zwei Bauern, um den schwarzen König angreifen zu können. Beide Spieler übersahen, dass Karjakin mit einer einfachen Wendung alle Drohungen abwehren und den Materialvorteil hätte wahren können.
Stattdessen ließ der Herausforderer aus Russland einen Gegenschlag zu. Sein Materialvorteil war weg und sein König entblößt. Im resultierenden Endspiel hielten sich die Chancen die Waage, doch die Stellung war für Karjakin wegen eines starken Freibauern auf der a-Linie einfacher zu spielen. Karjakin nutzte nach der Zeitkontrolle im 40. Zug seine Chance und gewann dank eines weit vorgerückten Freibauern auf der a-Linie.
Carlsen ließ in der letzten Phase der Partie jegliche Zähigkeit vermissen. Er kratzte sich ungläubig an der Nase, verzog das Gesicht und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, ehe er Karjakin widerwillig die Hand reichte und seine Niederlage einräumte. Entschieden ist das Duell noch längst nicht. "Ich weiß sehr wohl, dass noch immer vier Partien zu spielen sind", sagte Karjakin.
Karjakins kleine Spitze
Fakt ist aber: Carlsen benötigt eine enorme Leistungssteigung, falls er seinen Titel nicht an Karjakin verlieren will. Er muss gegen den Defensivkünstler mindestens eine Partie gewinnen, um den Tiebreak zu erzwingen. Dieser beinhaltet vier zusätzliche Partien mit einer verkürzten Bedenkzeit von 25 Minuten plus 10 Sekunden Zeitgutschrift pro Spieler/pro Zug.
Doch, dass das alles andere als leicht werden wird, zeigen die ersten acht Partien. Der schüchterne Karjakin ist ein Meister in der Defensive, und Carlsens so gefürchteten Improvisations-Fähigkeiten greifen im Aufeinandertreffen in New York (noch) nicht. Enden die folgenden vier Partien Unentschieden, heißt der neue Weltmeister Sergei Karjakin.
Bei allem Trubel um seine Person ließ sich Karjakin dann doch noch eine kleine Spitze gegen Carlsen entlocken. "Es ist sehr befriedigend, mit schwarzen Steinen zu gewinnen", sagte er lächelnd: "Aber gut zu spielen, ist wichtiger als die Farbe der Figuren."
Quelle: ntv.de, Andreas Asen, sid