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Hausabriss für Olympia Chinesen müssen raus

Mit jedem abgerissenen Haus geht ein Stück Pekinger Geschichte verloren, werden Menschen aus ihrem angestammten Zuhause vertrieben. Yu Pingju zählt die Tage, bis ihre Familie das Dach über dem Kopf verliert. Bald sollen die Bagger kommen. "Sie sagen, dass sie die Stadt für die Olympischen Spiele säubern", sagt die 40-Jährige. Ihr kleiner Laden und das Haus dahinter sollen einem neuen Grünstreifen Platz machen. Die Familie ist nur eine von vielen, die olympischen Projekten, Prestigebauten, Hochhäusern oder Straßen weichen müssen.

Die Großfamilie zählt 14 Mitglieder, Yu Pingjie hat vier ältere Brüder. "Alle wohnen in sechs Zimmern. Wir essen und schlafen hier", sagt Yu Pingju und weist mit der Hand vom Küchentisch zum Bett. Am Kopfende des Bettes hängt ein chinesischer Wächter, das Glückszeichen "Fu" in Rot. Ein Buddhaposter schmückt die Tür, die Wände sind mit Softdrink-Reklame tapeziert. Seit Jahrzehnten verkauft ihre Familie die in Peking so beliebten gebrannten Kastanien direkt an der Straße. Es gibt auch getrocknete Früchte, moderne Kühltruhen mit Speiseeis sowie Getränke, Kekse und Süßigkeiten für Passanten.

"Das ist das Ende."

"Wenn wir hier weg müssen, weiß ich nicht, was wir machen sollen", sagt Yu Pingju verzweifelt. "Das ist das Ende." Ihr Haus liegt im Herzen Pekings, an der Dianmennei-Straße, nördlich vom Jingshan-Park. Alle Besucher, die von der Verbotenen Stadt auf den Kohlehügel steigen und zum berühmten Trommelturm gehen, kommen an dem Kiosk vorbei. "Unsere Familie hat hier schon vor der 'Befreiung' gelebt", sagt Yu Pingju mit Blick auf die Gründung der kommunistischen Volksrepublik 1949. Ihr Vater habe einst Kessel, Kaminrohre oder auch Kehrschaufeln angefertigt. Eine Eisenarbeit habe er sogar für die Verbotene Stadt geliefert. "Heute leben wir alle von dem kleinen Laden", sagt die 40-Jährige. "Keiner hat andere Arbeit."

Nicht nur wegen ihrer Nähe zum Kaiserpalast hat die Gegend historische Bedeutung. Schräg gegenüber vom Kiosk beginnt die Sackgasse, wo Deng Xiaoping, der Vater der chinesischen Marktwirtschaft, bis zu seinem Tod 1997 gelebt hat. Seine Reform- und Öffnungspolitik hat viele Menschen vom alten sozialistischen System befreit, aber auch Auswüchse eines wilden Kapitalismus entstehen lassen. "Seit 40 Jahren haben wir diesen Kiosk. Jetzt sagen die Stadtbehörden, es sei ein illegaler Bau", sagt Yu Pingju. Um ihr Haus vor den Baggern zu schützen, hat sie Fotos von Deng Xiaoping, Mao Testung und Regierungschef Wen Jiabao aufgehängt. Die rote Nationalfahne weht auf dem Dach. Ein rotes Banner fordert den Ministerpräsidenten auf, "sich um das Schicksal der einfachen Leute zu kümmern". Vergeblich haben sie versucht, die staatlich kontrollierten Medien für ihr Schicksal zu interessieren. "Niemand traut sich, das zu berichten." Auf der anderen Straßenseite bewachen mehrere schräge Typen das Haus.

Chinesen trotzen der Bauwut

Immer wieder brechen angesichts der vorolympischen Bauwut Proteste aus. Die Leute wollen nicht weg, halten die Entschädigungen für unzureichend. So mancher Abriss wird vage mit Olympia begründet. Kritiker beklagen, dass sich Bauunternehmen in Kollaboration mit Stadtbehörden kostbare Grundstücke unter den Nagel reißen, um glänzende, aber kalte Büro- und Wohngebäude zu bauen, mit denen Millionen verdient werden. Experten halten das auch für eine wichtige Einnahmequelle der Stadtbehörden. Doch mit den berühmten Hutongs verschwindet auch das traditionelle Leben in den Pekinger Gassen. Vergeblich berufen sich die Vertriebenen auf das seit Oktober geltende neue Gesetz über den Schutz des privaten Eigentums.

Die vorolympische "Stadtverschönerung" ist für Yu Pingju auch "nur ein Vorwand". Arbeiter der Abrisskolonne hätten ihr erzählt, dass die Baufirma schon den Auftrag habe, nach den Spielen auf dem Grünstreifen eine Geschäftszeile zu bauen. Ob das stimmt, bestätigt niemand. Fest steht, dass die Familie für die 37,1 Quadratmeter, die im Grundbuch statt der selbst ausgebauten rund 100 Quadratmeter eingetragen sind, mit 346.660 Yuan (rund 32.500 Euro) entschädigt wird. Doch eine nur 37 Quadratmeter große Wohnung würde in dieser Gegend das Zwei- bis Dreifache kosten - ein kleiner Laden ein Vielfaches mehr. "Mit so wenig Entschädigung können wir uns nicht einmal eine Wohnung in einem Vorort leisten", beklagt Yu Pingju.

Die Verwaltung des Bezirks Xicheng begründet den Abriss in den Räumungspapieren mit der amtlich beschlossenen "Säuberung von Ansiedlungen in der Stadt". Die Entschädigung folge marktüblichen und gesetzlich anerkannten Richtwerten. Der Familie wird vorübergehend eine Übergangswohnung von 72,9 Quadratmetern zur Verfügung gestellt. Doch Yu Pingju will ausharren, bis die Schaufellader kommen. "Sie müssen mich schon mit Gewalt hier wegholen." Auf die Sommerspiele hatte sie sich eigentlich gefreut. "Wir stehen voll hinter Olympia", beteuert die 40-Jährige. "Als Peking den Zuschlag für die Austragung bekam, haben wir hier Feuerwerk entzündet." Was das olympische Motto "Eine Welt, ein Traum" für sie heute bedeute? Sie beißt sich auf die Lippen. "Das kann ich nicht aussprechen", sagt Yu Pingju.

Von Andreas Landwehr, dpa

Quelle: ntv.de

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