NFL entdeckt Flag Football Der Football der Zukunft ist körperlos
31.12.2023, 08:39 Uhr
Flag Football ist auf dem Vormarsch.
(Foto: IMAGO/Icon Sportswire)
Die NFL ist die größte Sportliga der Welt. Expandieren will sie trotzdem. Doch die Regeln sind kompliziert, um Football zu spielen braucht es Ausrüstung und eine Menge Zeit. Deswegen setzt die NFL bei der Eroberung der Welt auf kleine Flaggen und einen "gigantischen Spaß-Faktor".
American Football, das sind für den landläufigen Sport-Fan vor allem harte Tackles. Zweiundzwanzig Männer in strammen Leggings und nahezu unzerstörbaren Helmen rasseln mit einer Energie ineinander, die die Super-Bowl-Halbzeitshow mit Strom versorgen könnte.
Den zwangsläufig auftretenden körperlichen Verschleiß kann man als zentraleuropäischer Fußball-Fan kaum begreifen: Nahezu in jedem Spiel wird ein Akteur verletzt vom Feld geführt oder gleich getragen. Es gibt ein eigenes Protokoll für Kopfverletzungen (zugegeben ein Feld, in dem auch der Fußball noch aktiver werden müsste), darüber hinaus gerissene Sehnen oder gebrochene Knochen.
20 Spiele statt 60 oder 100
Der unweigerlich enorme körperliche Einsatz prägt den Sport bis heute durch etliche Begleiterscheinungen. Die offensichtlichste ist die Notwendigkeit von Schutzkleidung. Immer wieder werden die Helme überarbeitet, dazu gibt es Pads für Schultern, Rücken und Brust oder Tape für die Knöchel. Der spartanisch gehaltene Spielplan schließt direkt daran an. Spieler eines europäischen Fußball-Teams kommen auf gut 60 Partien im Jahr, in der NBA gehen Teams auf dem Weg zum Titel gern mal auf die 100 zu.
Und in der NFL? Knapp 20 Spiele absolviert der Super-Bowl-Sieger. Mehr sind nicht drin, der Sport ist schlicht zu anstrengend, die Belastung der Spieler zu hoch. Als 2019 diskutiert wird, ob die NFL 18 statt 16 Partien in der Regular Season absolviert, berichtet ESPN von einer Studie der NFL-Spielergewerkschaft. Sie rechnet aus, dass die durchschnittliche Karrierelänge der Spieler von 3,4 auf 2,8 Jahre sinken würde. Seit 2021 sind es 17 Spiele pro Saison für jedes Team.
Ausrüstung kostet Geld, Belastung kostet Zeit
Noch solch eine Problematik: Aufgrund des Verletzungsrisikos ist der Pro Bowl, das All Star Game der NFL, für lange Zeit hauptsächlich ein Kontaktvermeidungsspiel. Es ist das letzte Spiel der Saison vor dem Super Bowl und kein Spieler will den Urlaub mit einer gerissenen Achillessehne antreten. Auch ein Export der Sportart krankt an diesen Faktoren. Die erforderliche Ausrüstung kostet Geld, die hohe Belastung der Sportler Zeit. Letzteres versperrt Football auch eine theoretische Aufnahme ins olympische Programm. Ein Turnier innerhalb von vier Wochen erscheint undenkbar.
Doch die NFL hat offenbar eine Lösung für all diese Probleme gefunden. Eine neue Wunderwaffe sorgt für ein spannendes All-Star-Game, löst sämtliche Zeit- und Ressourcen-Probleme, beugt Verletzungen eher vor, als sie zu verursachen und feiert im Jahr 2028 ihr Olympia-Debüt. Ihr Name: Flag Football.
"Alles was geil ist" – ohne Autounfall
Einen ersten Eindruck von der Football-Variante auf der ganz großen Bühne gibt es schon in diesem Frühjahr, beim bereits angesprochenen Pro Bowl. Statt mit Helm und Pads stehen die besten Football-Spieler der Welt mit schnellen Brillen, Goldkettchen oder Anglerhut auf dem Spielfeld. Gute Laune weit und breit, keiner braucht sich Sorgen um Verletzungen zu machen. Denn Flag Football ist kontaktlos. Zwei Flaggen oder Fähnchen an der Seite der Spieler müssen gegriffen werden, dann endet der Spielzug. Da Kontakt keine Rolle spielt, fehlen Offensive und Defensive Line, also die Männer, die bei jedem Spielzug unmittelbar gegenüberstehen und mit dem Anpfiff ineinander rasseln.
Übrig bleiben sieben Spieler pro Mannschaft, darunter Quarterbacks, Receiver, Running Backs, Cornerbacks und so weiter. "Du hast deine Moves, die Pässe, deine Routen oder musst das verteidigen. Alles, was geil ist aus dem Football, hast du im Flag Football auch. Dir tut am nächsten Tag nur nicht der Körper weh, als hättest du einen Autounfall gehabt", sagt Mona Stevens und attestiert ihrem Sport einen "gigantischen Spaß-Faktor". Die muss es wissen. Denn die 31-Jährige ist Quarterback für die deutsche Tackle-Football-Nationalmannschaft, Wide Receiver für die Flag-Football-Auswahl Deutschlands und darüber hinaus Flag-Football-Botschafterin der NFL und als Expertin Teil des NFL-Teams des Senders RTL.
Viel Energie für die Expansion
Immer wieder hat sie Kollegen, die vom Flag Football zum Tackle Football wechseln. "Das ist langweilig, ich bekomme kaum einen Ball", bekommt sie dann häufiger zu hören. "Beim Flag Football ist immer Action. Du bekommst mehr Pässe, du läufst mehr Routen", erklärt sie. Möglich ist der Wechsel aber, es brauche lediglich ein paar Wochen der Eingewöhnung. Auf diesen Effekt setzt auch die NFL.
Denn der amerikanische Sportgigant geht derzeit mit viel Energie seine Expansion an. "America's Game" will raus in die Welt. Ein wichtiger Stützpfeiler dieses Projekts sind die Spiele im Ausland. Schon seit 2007 wird regelmäßig in London gespielt, seit 2022 gastiert die NFL auch in Deutschland - mit beeindruckender Resonanz. Mehrmals war die NFL schon in Mexiko City zu Gast, im nächsten Jahr will der Football-Zirkus Halt in São Paulo machen.
Eine Sportart live erleben zu können, ist das eine. Sie tatsächlich zu betreiben, etwas völlig anderes. Wenn die NFL eine globale Liga sein will, braucht sie auch globale Stars, so wie beispielsweise die NBA. In der besten Basketball-Liga der Welt kommen viele Spitzenspieler aus den USA, aber eben auch aus Griechenland, Slowenien, Serbien oder Kamerun. In der NFL ist das - noch - undenkbar.
"Wer kloppt sich im Park mit Ausrüstung?"
Eine Erfolgsformel des Fußballs, der global größten Sportart, ist die enorm geringe Anforderung an Spielmaterialien. Man braucht einen Ball, eigentlich reicht auch irgendein Gegenstand, der sich halbwegs werfen und fangen lässt. Als Torpfosten kann man zwei Jacken auf den Boden werfen. Das war's. "Für Football brauchst du eine Infrastruktur. Wer kloppt sich im Park mit Ausrüstung? Aber Flag Football kannst du auch im Park oder am Strand spielen. Das ist die erweiterte Version von Ball fangen", erklärt Sebastian Vollmer, selbst sieben Jahre für die New England Patriots in der NFL aktiv, das minimalistische Konzept.
Durch die wenigen Mittel, die das Spiel benötigt, ist es längst auch im Schulsport angekommen. "Du hast jetzt als Kind die Chance, damit aufzuwachsen. Die Hemmschwelle ist im Gegensatz zum Tackle Football viel niedriger, für Kinder wie auch für die Eltern, weil das Verletzungsrisiko deutlich niedriger ist. Jungs und Mädchen spielen zusammen.", erklärt Vollmer. "Und übergehen zum Tackle Football kannst du immer, wenn du Lust hast. Flag Football ist für die NFL auch ein gutes Mittel, den nächsten Star aus Afrika oder Europa zu finden."
Patrick Mahomes bald Olympionike?
Und dann gibt es da noch Olympia. 2028 finden die Spiele in Los Angeles statt. Auch Flag Football steht auf dem Programm. Jüngst meldete NFL-Megastar Patrick Mahomes Interesse an einer Teilnahme an. "Die NFL ist sehr interessiert daran, dass der Sport bei Olympia vertreten ist", sagt Stevens. Gleichzeitig bestehe für die Spieler die historische Gelegenheit, das erste Football-Gold zu gewinnen. Auch Deutschland könnte Medaillenchancen haben. Bei der Europameisterschaft 2023 siegen die Herren, die Damen holen Bronze.
Die reine Popularität des Footballs wird Flag Football womöglich nicht maßgeblich verändern. Die Zugangsmöglichkeiten im Alltag schon. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich der Football den Helm auf und nahm Sportkneipen und Wohnzimmer weltweit ein. Mit dem Rückenwind von L.A. 2028 kann der Football endlich auch Parks, Strände und Schulhallen erobern - nur diesmal eben ohne Helm.
Quelle: ntv.de