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Vom Underdog zu Joe Cool Burrow Der neue Tom Brady

Burrow ist längst der Shootingstar.

Burrow ist längst der Shootingstar.

(Foto: imago images/Icon SMI)

Quarterback Joe Burrow ist ein Phänomen: In seiner zweiten NFL-Saison kann der Jungstar scheinbar jedes Problem lösen und greift nach dem Super Bowl. Dabei stoppt ihn ein Kreuzbandriss beinahe jäh.

Tom Brady hatte als wahrscheinlich bester und definitiv erfolgreichster Quarterback aller Zeiten nicht nur einen grandiosen Arm, auf den er sich immer verlassen konnte. Er war vor allem immer genau dann da, wenn es notwendig war. Oft dann, wenn keiner mehr wirklich damit rechnete. Brady wusste, wann er sich auf sein Team verlassen kann und wann er selbst die Kontrolle übernehmen muss.

Joe Burrow scheint diesen speziellen Werkzeugkoffer in seinen jungen Jahren bereits aufgeknackt zu haben. Der 25-jährige Quarterback der Cincinnati Bengals sitzt am Freitag breitbeinig im gleißenden Sonnenlicht der Mittagshitze in Los Angeles und beantwortet die Fragen der Presse so abgeklärt, ruhig und erwachsen, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Eine verspiegelte Sonnenbrille im Gesicht, die Gatorade-Flasche immer griffbereit neben dem rechten Fuß. "Joe Cool" wird er passenderweise gerufen. Genau wie der legendäre Joe Montana, der in den 1980er und 1990er Jahren mit den San Francisco 49ers äußerst erfolgreich war.

"Ich mag alle meine Spitznamen", erklärt er dem Medienpulk und sorgt für Lacher. In LA kommt der Jungspund gut an, obwohl er sagt, dass er das Wetter in seiner Heimat in Ohio lieber mag. Dort habe er auch das "small town Ohio mindset" gelernt, die Kleinstadtmentalität, die ihn immer hart arbeiten und kämpfen lasse.

Zu lange wurden daher auch seine Bengals als Underdogs gehandelt. "Am Anfang haben wir das noch gerne mitgenommen und uns daran hochgezogen, aber jetzt ödet mich das etwas an", sagt Burrow. Wenn man den Quarterback reden sieht, spürt man, dass man einen Gewinner vor der Nase hat. "Wenn du uns unterschätzt, schlagen wir dich", sagt er, und wohl jeder Zuhörer glaubt ihm.

Ultimativer Problemlöser

Der 25-Jährige verhaspelt sich kaum, scheint überhaupt nicht aufgeregt zu sein vor dem größten Spiel seiner Karriere. Dem Finale, von dem fast jedes Kind in den USA träumt. So überlegt wie Burrow spricht, spielt er auch; als würde er schon ewig die Bälle in der besten Football-Liga der Welt verteilen. Dieser coole Jungspund scheint auf dem besten Weg, die Führung im Kampf um die Brady-Nachfolge zu übernehmen. Es passt, dass Burrow gerade an dem Wochenende in den Super Bowl einzog, an dem der (damals noch potenzielle) Rücktritt Bradys die Runde machte.

Klar, da ist dieser Patrick Mahomes. Ein Genie im Pass- und Laufspiel, doch eben diesen Überflieger der vergangenen Jahre, den bestbezahlten NFL-Profi, schaltet Burrow auf dem Weg zum ersten Super Bowl der Bengals seit 33 Jahren aus. Und zwar mit der Football-Intelligenz und dem Skillset - dem speziellen Werkzeugkoffer - die sonst Brady stets für sich gepachtet hatte. Burrow, der als Kind gar nicht Quarterback spielen wollte, ist in seinem zweiten Jahr in der Liga bereits der ultimative Problemlöser.

3:21 liegt sein Team gegen Mahomes' Kansas City Chiefs im Conference Finale zurück. Zeit für Panik? Nicht doch, "Joe Cool" führt sein Team zunächst in die Verlängerung und dann zum absoluten Überraschungserfolg. Vor der Saison hätte niemand auch nur einen Cent auf die Bengals gesetzt.

Beim grandiosen Comeback-Sieg über Mahomes weiß Burrow genau wie Brady, wann er sich auch auf seine Mannschaft verlassen kann und muss. Das junge Bengals-Team reißt nach einer miserablen ersten Hälfte das Ruder herum und performt als eine Einheit. Angeführt natürlich vom Spielmacher Burrow.

Auf seinen Führungsstil angesprochen, erzählt der Quarterback, dass sein "Schlüssel" dafür sei, einfach er selbst zu sein. "Egal, welche Situation, egal, welche Umstände". Er hätte sich nie hingesetzt, "und darüber nachgedacht, was es heißt, ein Anführer zu sein". Dass Burrow auch dieser Werkzeugsatz aus dem Brady-Koffer ganz natürlich zufliegt, es ist dem selbstbewussten jungen Mann einfach abzukaufen.

"Ich spiele für die Jungs in der Umkleidekabine und um Spiele zu gewinnen", sagt "Joe Cool". Er ist ein sogenannter Team-First-Spieler. Und auch wegen dieses Vertrauens schafft seine Defensive gegen die Chiefs, was seit drei oder vier Jahren eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist und lässt von Superstar Mahomes in den letzten fünf Minuten der ersten, den kompletten 30 Minuten der zweiten Halbzeit und allen fünf Minuten und 34 Sekunden der Verlängerung nun drei mickrige Punkte zu. Dafür benötigt Mahomes sonst gerne mal weniger als eine Minute.

"Er ist ein Zauberer"

Dass Burrow gut ist, wussten viele. 2019 gewinnt er die Heisman-Trophäe für den besten College Spieler. Die Miami Dolphins sollen vor dem NFL-Draft 2020 den Bengals gleich drei Erstrunden-Picks angeboten haben, um als erstes und nicht erst als fünftes Team einen Spieler auswählen zu können. Cincinnati lehnt ab. "Man hätte uns 100 Erstrunden-Picks anbieten können und wir wären nicht darauf eingegangen", sagt Chefcoach Zac Taylor heute. Die Bengals ahnen da bereits, dass Burrow ein ganz besonderer Spieler ist. Dass er "special" ist. Jetzt wissen sie es.

"Er ist der ultimative Krieger, der ultimative Wettkämpfer", adelt Safety Vonn Bell seinen Quarterback einmal. "Er findet immer die Jungs an den richtigen Orten in den richtigen Momenten. Er ist ein Zauberer. Das Spiel verlangsamt sich für ihn und er macht immer die richtigen Spielzüge." Dieser Art Lobeshymne gibt es auch hundertfach für Tom Brady. Die ganz Großen erkennt man an ihren Führungsfertigkeiten, vor allem in den ganz großen Momenten. Burrow scheint dafür gemacht und will im Super Bowl wieder liefern. "Wir wussten, dass er ein spezielles Talent sein könnte", fügt Bell hinzu, "und das werden wir nun der ganzen Welt zeigen".

Aber sogar der Jungspund selbst findet es ein wenig verrückt, dass er schon in seinem zweiten Jahr so überragend aufspielen kann. In der vergangenen Saison gewann Cincinnati gerade einmal vier Spiele. "Hätte man mir vor der Saison gesagt, wie es laufen wird, wäre ich sehr überrascht gewesen", sagt Burrow gegenüber "Sports Illustrated". Noch imposanter wird dessen Leistung, wenn man bedenkt, dass der Quarterback sich gleich in seiner ersten Saison sein Kreuzband reißt und im Dezember 2020 operiert werden musst. Ein Schock für die Bengals, konnte die Verletzung doch bedeuten, dass der Nummer-eins-Pick vielleicht nie sein volles Potenzial ausschöpfen werden könne.

"Das waren lange Tage mit vielen Schmerzen", erzählt Burrow am Freitag in der Sonne von Los Angeles. In der Saisonvorbereitung im Mai und Juni kann er noch nicht voll mittrainieren. Doch der Quarterback kämpft sich zurück. Vielleicht auch dank seiner Kleinstadtmentalität. Diese Brady-eske Kämpferqualität bringt er auch im bisher wichtigsten Spiel seiner Karriere aufs Feld, wirft gegen die Chiefs noch vor der Pause den wichtigen Anschluss zum 10-21 mit einem 41-Yard-Touchdownpass.

In der zweiten Hälfte findet Burrow bald Rookie Ja'Marr Chase, mit dem er so prächtig harmoniert, weil beide schon an der Uni zusammenspielten, für einen weiteren Touchdown. Immer wieder trifft er die richtigen Entscheidungen - so etwa auch mehrere wichtige Läufe, die in der Verlängerung zum entscheidenden Field Goal und zum Sieg über die Chiefs führen - wie es sonst nur erfahren Spielmacher in solchen wichtigen Spielen können. Burrow findet immer einen Weg, auch wenn er nicht der athletischste der Spielmacher ist. Auch damit ähnelt er Tom Brady.

Coolness färbt ab

Das Selbstbewusstsein des jungen Quarterbacks springt aufs Team über. Seine Mitspieler wissen, dass sie sich auf ihren Spielmacher verlassen können. "Joe Cool" färbt auch mit seiner Entspanntheit und Coolness ab. Schon Tage vor dem Super Bowl fahren einige Bengals vor ihrem Teamhotel in Los Angeles Wettrennen mit ausgeliehen E-Scootern und witzeln mit Fans herum.

Brady ist weg. Wird in Los Angeles der neue Star am Quarterback-Himmel gekrönt? Es streiten natürlich Josh Allen, Lamar Jackson, Mac Jones und ein paar weitere Jungstars mit und auch Altstar Aaron Rodgers und Mahomes sind immer noch zwei der Allerbesten. Die Rivalität Burrow vs. Mahomes könnte die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte über das dominante Narrativ der NFL werden. Und das junge Bengals-Team könnte auf Jahre einer der Dominatoren im Football werden. Die erste Entscheidung dafür wird am Sonntag fallen.

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Die Bengals haben mit ihrer märchenhaften Saison allen gezeigt, was sie und ihr Quarterback drauf haben. Gewinnt "Joe Cool" gar den Super Bowl, übernimmt der neue "Problemlöser" die Führung in der Brady-Nachfolge. Ein Jahr nach einer Kreuzband-Operation. In seinem zweiten Jahr in der besten Liga der Welt.

Die Nummer eins bei den abgeklärten und lockeren Spielmachern ist der 25-Jährige ohnehin schon längst. Das spüren sie alle in LA, sogar die Gegner. "Wenn du im Wörterbuch "cool" nachschlägst", sagt Wide Receiver Odell Beckham Junior von LA Rams dieser Tage über Burrow, "findest du ein Bild von ihm mit seiner Brille von Cartier."

Quelle: ntv.de

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