
Ein Sturz mit Folgen, aber auch ins Glück.
(Foto: IMAGO/Oryk HAIST)
Ihr Lauf zum EM-Titel dauert gerade einmal 10,99 Sekunden, doch danach folgen für Gina Lückenkemper aufregende Stunden. Das aufgeschlitzte linke Knie muss in der Notaufnahme versorgt werden. Am Tag danach erzählt sie glücklich von einer äußerst kurzen, aber ereignisreichen Nacht.
Der schnellsten Frau Europas fällt es sichtbar schwer, aufzustehen. "Ich hatte mir das ehrlich gesagt ein bisschen anders vorgestellt", sagt Gina Lückenkemper am Tag nach ihrem sensationellen Sieg im 100-Meter-Finale von München, "wenn ich dann mal einen Europameistertitel gewinne, wollte ich das eigentlich anders feiern als in der Notaufnahme." Zurück im Teamhotel der deutschen Mannschaft sitzt sie dennoch freudig strahlend in der Pressekonferenz - nach einer kurzen Nacht mit wenig Schlaf. "Das linke Knie ist geflickt", erzählt die 25-Jährige aus ihrer Krankenakte, "das rechte Bein ist voller Schürfwunden und Schwellungen."
Nach 10,99 Sekunden warf sich Lückenkemper im Endlauf ins Ziel, stürzte danach und riss sich mit den Spikes des rechten Fußes das linke Knie auf. "Eine kleine Fleischwunde", nennt sie das nun selbst, die ihr einen "sehr spannenden Abend" bescherte. Statt direkt in Schwarz-Rot-Gold gehüllt auf die Ehrenrunde im mit 40.000 völlig euphorisch-aufgepeitschten Zuschauern besetzten Olympiastadion zu gehen, musste erst einmal die Blutung gestoppt werden. "Das hatte ich so auch nicht", fasst Lückenkemper mit einem Lachen die nächsten Stunden zusammen, "dass ein Wettkampf so für mich geendet hat."
In den folgenden Stunden fielen die Feierlichkeiten weitgehend aus, dafür bekam die herausragende deutsche Sprinterin der vergangenen Jahre ganz unerwartet völlig neue Einblicke. "Ich bin vorher noch nie Krankenwagen gefahren", erzählt Lückenkemper, "ich war auch nie davor in der Notaufnahme." Natürlich hätte sie lieber die beeindruckende Stimmung im Stadion noch länger genossen, aber "eigentlich war das auch ganz aufregend und ich fand das alles super spannend, was da so passiert ist."
Dopingkontrolle im Krankenhaus
Um 22.25 Uhr fiel der Startschuss, um 1.24 Uhr meldete der DLV, dass die neue Europameisterin über 100 Meter gerade wieder im Teamhotel am Olympiapark angekommen ist. "Mir geht's mittlerweile den Umständen entsprechend gut", sagt sie knapp 14 Stunden später. Gehen funktioniere schon wieder, ein bisschen Radfahren auch, beim Aufstehen aber muss sich Lückenkemper am Tisch aufstützen, um wieder auf die Beine zu kommen. Vorher erzählt sie aber noch in ihrer gewohnt auskunftsfreudigen, zugewandten Art, dass sie im Krankenwagen auch noch ganz offizielle Begleitung hatte: "Ich habe in der Notaufnahme noch meine Dopingkontrolle gemacht."
Es passt zu diesem besonderen Abend, dass die 25-Jährige nach dem Nähen der Wunde dann auch noch eine Urinprobe abgeben musste. "Danach sind wir zurück ins Hotel gefahren", da habe noch ihr US-amerikanischer Trainer Lance Brauman auf sie gewartet "er wollte sich das nicht nehmen lassen, mich hier in Empfang zu nehmen". Groß gefeiert wurde dann aber nicht mehr, "weil ich einfach schlichtweg platt war" nach all den aufregenden ersten Malen: erster Europameistertitel, erste Fahrt im Krankenwagen, erster Besuch in der Notaufnahme. Wirklich erholsamen Schlaf, verrät sie allerdings, habe sie danach nicht gefunden.
"Zwei Stunden" seien es gewesen, einfach "weil ich keine Position gefunden habe". Die Betäubung der Erstversorgung habe langsam nachgelassen, während Lückenkemper versuchte, ihren geschundenen Körper zum Einschlafen auszurichten. "Auf der einen Seite das genähte Knie, auf der anderen Seite die ganzen Schürfwunden", schildert sie die koordinative Herausforderung, "das hat die ganze Geschichte nicht ganz so leicht für mich gestaltet."
"Mitgekriegt, dass es unfassbar eng war"
Die Nacht passt zu einem Wettkampftag, der wahrlich genug Aufregung bot. Das Finale war der letzte Akt eines Krimis, der sich im Laufe des Dienstags immer weiter zuspitzte. Die Stimmung im Stadion hatte den Siedepunkt aufgrund des EM-Titels für Zehnkämpfer Niklas Kaul gefühlt bereits erreicht, als die Sprinterinnen den Abend beenden durften. Doch es ging noch lauter, noch euphorischer: Lückenkemper genoss die Kulisse sichtlich, grinste schon bei ihrer Vorstellung und saugte die Atmosphäre auf. Wie kaum eine andere scheint sie sich erst im letzten Moment fokussieren zu können, wenn es in den Startblock geht.
Dass sie auch in diesem Finale wieder einmal die langsamste Reaktionszeit hatte, ist für die 25-Jährige nichts Neues, sie ist schon immer die "Jägerin", lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen, sagt sie. Sie sprintet - und wie. Sie arbeitete sich an Gegnerin um Gegnerin vorbei, kämpfte um jede Tausendstel. Wie erfolgreich ihre Jagd diesmal war, wusste sie im Ziel selbst gar nicht so genau. "Wirklich realisiert habe ich es tatsächlich erst, als es laut wurde im Stadion und ich im nächsten Moment auf der Anzeigetafel gesehen habe, dass neben der 1 die Deutschland-Fahne aufgeploppt ist", sagt sie am Tag danach. "Davor habe überhaupt keine Ahnung gehabt, wofür es an der Stelle gereicht hat. Ich war mir ziemlich sicher, dass es für eine Medaille gereicht hat, weil ich nicht mitbekommen habe, dass so viele nach vorne geprescht sind, aber ich habe halt schon mitgekriegt, dass es unfassbar eng war."
Ihr Gefühl täuschte sie nicht, erst die Auswertung des Zielfotos brachte den Sieg, die Athletinnen wie das tobende Publikum im Stadion mussten einige quälend lange Sekunden warten. Lückenkemper hatte schließlich buchstäblich die Nase vorn. "Ich meine 10,99, 10,99, 11,00 - ich denke, das spricht für sich. Am Ende waren es nur fünf Tausendstel zwischen Mujinga (Kambundji, Silbermedaillengewinnerin aus der Schweiz, Anm.d.Red.) und mir, also das ist schon extrem und zeigt, wie eng die ganze Nummer war. Aber ich glaube, mit der Zieleinlage kann man definitiv sagen: Ich wollte das Ding."
Trainer sorgt für Blitzheilung
Für "das Ding" hatte sie den ganzen Tag über einige Qualen durchlitten - unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit spielte sich im deutschen Team ein kleines Drama ab. Seit Montag schon plagte sie sich mit Beugerproblemen im linken Oberschenkel, zu ihrem Halbfinale am Vormittag trat sie stark getapet an. Es ist nach dem Lauf kaum vorstellbar, aber Lückenkemper hatte tatsächlich überlegt, gar nicht erst an den Start zu gehen. "Das Gefühl im Hamstring (hinterer Oberschenkelmuskel, Anm.d.Red.) war vorher so komisch, dass ich kurz davor war, zu überlegen, ob wir auf das Finale verzichten, weil ich einfach zu große Sorge hatte, dass ich mich dabei verletze", blickt sie zurück.
Zum Finale trat sie dann allerdings ganz ohne Tape am Oberschenkel an. Eine Blitzheilung, weil sie zwischendurch die Leviten gelesen bekommen hat, wie sie sagt. Und zwar von Brauman, der "ein Gespür" dafür gehabt habe, was sie "in dem Moment auch wirklich gebraucht" habe. Denn ein technischer Fehler hatte sich eingeschlichen in ihr Sprinten, den Brauman beim Warm-up erkannte und gnadenlos abhandelte. "Dann hat mich Lance mal zur Seite genommen und hat zu mir gesagt: 'Gina, ich hab dich gerade rennen sehen - wenn du die ganze Zeit hinter deinem Körper rennst mit deinem Bein, dann brauchst du dich auch nicht wundern, dass dein Hamstring wehtut. Lauf doch einfach mal vernünftig.'" Er habe ihr dann vormachen wollen, wie sie beim Laufen aussehe und habe dabei selbst fast einen Krampf bekommen und gesagt: "Siehst du wie blöd das ist, wenn du das so machst."
Es war eine regelrechte Trainingseinheit, die Brauman seiner Athletin in 20 Minuten reindrückte, der "grobe technische Fehler" ließ sich lösen - und damit auch ihre Schmerzen. "Siehe da, auf einmal konnte ich komplett ohne Schmerzen und ohne Beschwerden wieder über den Warm-Up-Track flitzen, ohne auch nur irgendwas gespürt zu haben", sagt Lückenkemper. Es ist der Moment, in dem klar war, ein Verzicht aufs Finale ist aus der Welt, sie war bereit, es mit den besten Europas aufzunehmen. So bereit, dass sie sich zur Besten kürte.
Für den Staffel-Vorlauf reicht es nicht
Die Frage nach dem Bereit-Sein wird Lückenkemper auch in den nächsten Tagen begleiten. Am Freitag stehen die Vorläufe über 4x100 Meter der Frauen an, die deutsche Staffel gehört nach WM-Bronze natürlich auch bei der EM zu den großen Favoriten. Dass die knapp 48 Stunden ausreichen, um die Wunde für eine nächste Maximalbelastung heilen zu lassen, glaubt die 25-Jährige nicht. "Dafür ist die Naht noch zu frisch", die Qualifikation fürs Finale muss das DLV-Quartett also aller Voraussicht ohne die Einzeleuropameisterin in Angriff nehmen.
Das Finale am Sonntagabend ist der Abschluss der Wettkämpfe in München, soll im dramaturgischen Idealfall ein deutsches Erfolgserlebnis bringen - und die Menschen im Olympiastadion ein letztes Mal so euphorisieren, wie es Lückenkemper schon an diesem beeindruckenden Dienstagabend tut. Bis dahin soll das Knie wieder mitspielen, hofft die Sprinterin. "Eine Garantie haben wir natürlich nicht", sagt sie selbst schon etwas einschränkend, "aber wir wollen es auf jeden Fall nicht unversucht lassen". Und wenn Gina Lückenkemper in München eines bewiesen hat, dann ihr Talent dafür, aus unerwarteten Herausforderungen etwas Gutes entstehen zu lassen.
Quelle: ntv.de