Wenn Deutschland auf England trifft Boulevard als Zeitmaschine
26.06.2010, 08:56 UhrDer Klassiker Deutschland gegen England naht, der Boulevard befindet sich bereits im Schützengraben. Doch statt sich über dämliche Schlagzeilen aufzuregen, sollten wir uns auf das Spiel freuen - und auf ein mögliches Elfmeterschießen. Das liegt an "Elfmeterkiller" Jermaine Defoe.

Paul Gascoigne verlässt bei der WM 1990 nach dem Elfmeterschießen im Halbfinale den Platz.
(Foto: AP)
Wer meint, Zeitreisen seien unmöglich, der irrt. Der englische Boulevard tritt regelmäßig den Gegenbeweis an und führt uns bei jeder Europa- oder Weltmeisterschaft zurück ins Jahr 1940. Unser Boulevard geht nur zu gerne mit auf die Reise und tut so, als ob er sich über Weltkriegsmetaphorik und Nazi-Vergleiche ärgert. Doch der Konter folgt auf dem Fuße, Franz Beckenbauer stichelt via "Bild" gegen die Engländer. Das ist zwar harmlos, langweilig und vorhersehbar, stößt auf der Insel aber auf große Resonanz.
Vor allem bei der "Sun" und dem "Daily Star". Letzterem fiel auf, was verborgen bleiben sollte: Bei den schwarzen Auswärtstrikots der deutschen Nationalmannschaft handelt es sich – natürlich - um Nazi-Hemden. Klingt schlüssig, die SS kleidete sich ja auch in schwarz. Im Online-Auftritt der "Sun" bringt es ein Leser auf den Punkt: "Diese Weltmeisterschaft ähnelt dem zweiten Weltkrieg. Die Franzosen waren schnell draußen, die Amerikaner kamen spät an, und wir blieben zurück, um gegen die Deutschen zu kämpfen." Was der Leser verschweigt: Russland ist diesmal ein Totalausfall, es sieht daher düster aus für England.
Defoe will Elfer schießen
Dennoch herrscht auf der Insel unbegreiflicherweise die Gewissheit, dass die englische Mannschaft über die deutsche triumphieren wird. Nicht ohne Stolz erwähnt die "Sun", dass Torwart David James zuletzt neun von 29 Elfmetern parierte. Laut "Sun" ergibt das eine Quote von 37,9 Prozent verglichen mit nur 36,4 Prozent für Manuel Neuer, der vier von elf Strafstößen parieren konnte. Mathematisch hat James freilich nur 31,0 Prozent seiner Strafstöße gehalten. Sei es drum.

Dass die DFB-Auswahl bei Weltmeisterschaften eine Elfmeter-Erfolgsquote von 97 Prozent hat, England aber nur von 50 Prozent hat, passte leider nichts ins Blatt.
(Foto: The Sun)
Mit einer weiteren Statistik weist die Zeitung nach, dass die englischen Spieler auch besser im Elfmeterschießen sind als die deutschen. In nüchternen Zahlen ausgedrückt: Einer Erfolgsquote von satten 80,6 Prozent steht eine Quote von kümmerlichen 79,3 Prozent gegenüber. Mit Blick auf das Zahlenwerk erklärt Jermaine Defoe folgerichtig, er werde im Fall des Falles vom Punkt antreten. Es handelt sich um den Jermaine Defoe, der bei den Tottenham Hotspurs von den letzten 11 Strafstößen satte 5 versenkt hat.
Doch nicht nur der Blick auf Statistiken, auch unsere jüngste Kriegslist sorgt in England für Verwirrung. Die "Mail" kratzt sich am Kopf und stellt fest, dass die Nationalmannschaft nicht mehr für das "alte" Deutschland stehe. Spieler wie Özil, Podolski, Marin und Klose hätten früher nicht in der Nationalelf spielen dürfen, erklärt sie ihren erstaunten Lesern – strikte Einwanderungsgesetze, die noch aus der Vor-Nazizeit stammten, hätten das verhindert. Doch die Zeiten haben sich geändert, die Einbürgerung ist hierzulande vor einigen Jahren deutlich erleichtert worden. Es wird daher offenbar sehr viel schwieriger, das gegenwärtige Deutschland als ausländerfeindlich und teutonisch zu beschreiben.
Vorfreude wächst
Wer nach den typischen Stereotypen sucht, findet sie deshalb nur noch im Boulevard. Den meisten Engländern sind sie einfach zu blöde. Sie reiben sich stattdessen die Hände und fiebern dem Spiel am Sonntag entgegen. Denn was wäre eine Weltmeisterschaft ohne ein Aufeinandertreffen von England und Deutschland? Nichts.
"Müssten wir gegen Ghana spielen, wäre das verhängnisvoll", analysiert ein englischer Freund in einer lebhaften Diskussion auf Facebook, in der leidenschaftlich über die Aussichten Englands gestritten wird: "Unser Team würde sich nicht anstrengen und garantiert etwas ausgesprochen Dämliches veranstalten." Deshalb sei es prima, gegen Deutschland anzutreten. Er behauptet sogar: "Es wäre ok, zu verlieren, schließlich sind die Deutschen gut." Dass es soweit kommt, sei aber völlig ausgeschlossen, ergänzt er voller Zuversicht und gibt mir mit auf den Weg: "Gemäß unserer merkwürdigen nationalen Psychologie gewinnen wir selbst dann, wenn wir gegen die Deutschen verlieren. Versuch' doch mal, mit dieser Herausforderung klarzukommen." Ich gebe mir die größte Mühe. Nebenbei freue ich mich auf Sonntag.
Quelle: ntv.de