"Meine Fresse, was für eine Schmach!" Warum Italien nicht Weltmeister wurde
24.06.2010, 20:43 UhrItalien ist draußen. Der Weltmeister fliegt heim. Sang- und klanglos. Ohne Sieg. Nur zwei Remis der Squadra Azzurra. Ein Land versinkt in Trauer. Dabei hätte es gar nicht soweit kommen müssen.
"Nicht weinen!" "Wer fährt heim? Italien, Ohoooo!" "Meine Fresse, was für eine Schmach!" "Nicht traurig sein. Du kannst ja jetzt noch auf die Deutschen halten!". Das sind nur einige der rund ein Dutzend SMS und Mails, die ich in den letzten zehn Minuten erhalten habe. Überwiegend voller Schadenfreude und Häme. Warum? Was ist passiert? Der Weltmeister wird seinen Titel nicht verteidigen, Fußball ist doch kein Wunschkonzert. Die "Squadra Azzurra" ist bei der WM in Südafrika ausgeschieden. In der Vorrunde, mit zwei Unentschieden und einer Niederlage. Knapp, ein Tor hat gefehlt, zum Ausgleich gegen die Slowakei und damit zum Achtelfinale gegen die Niederlande. So ist Italien Gruppenletzter. Gründe gibt es viele, zu viele. Leider.
Da wäre natürlich zuerst der Schiedsrichter – oder Linienrichter besser gesagt und das "Wembley-Tor von Johannesburg". Es wäre der Ausgleich gewesen und das Achtelfinale gegen die Niederlande. Dann gibt es da auch noch ein "angebliches" Abseitstor. Es wäre der erneute Ausgleich gewesen und das Achtelfinale gegen die Niederlande. Und statt Niederlande gegen Italien heißt es nun Niederlande gegen Slowakei. Wer will so etwas denn überhaupt sehen? Ich nicht. Für mich ist die WM gelaufen. Vorbei. Tutto finito. Und für 60 Millionen Italiener ebenso. Aber es hätte gar nicht so weit kommen müssen.
Italien hat's am Rücken
Von Anfang an waren die Azzurri vom Pech verfolgt bei dieser ersten WM auf afrikanischen Boden: Spielmacher Andrea Pirlo an der Wade verletzt. Damit spielte die Elf von Weltmeistertrainer Marcello Lippi ohne ihren Kopf, ihr Gehirn und ihr Herz gleichermaßen - ihren Denker und Lenker im Mittelfeld. Und dann bekommt auch noch der vierfache "Welttorhüter des Jahres", Gigi Buffon, Rückenprobleme. Jawoll, am Rücken. Bandscheibe um genau zu sein – und das in seinem jugendlichen Alter. Es ist einfach nicht fair.
Das erste Gruppenspiel gegen Paraguay. Gut, die Südamerikaner waren lange Zeit besser, was das Spiel nach vorne anbetrifft. Aber hey, ohne Pirlo??? Und dann Neuseeland. Wer sagte gleich noch, es gibt keine Fußballzwerge mehr? Das Spiel hätte Italien gewinnen können, ja müssen. Und die Slowakei. … Nunja, deren halbe Mannschaft spielt in der Seria A. Die werden sich in der kommenden Saison noch wundern. Es ist ja nicht so, dass sie besser gewesen wären. "Italien muss man immer auf der Rechnung haben." "Schreibt mir die Italiener nicht ab." "Die Italiener starten immer schwer, aber dann …" Die Meinung der TV-Experten war eindeutig. Und mit ein bisschen mehr Glück. Hätte. Wäre. Wenn. Ist aber nicht – leider.
Kein Pirlo, keine Ideen
Also die Gefühle mal beiseite und versucht eine halbwegs objektive Einschätzung der "Squadra Azzurra" bei dieser Weltmeisterschaft zusammenzubekommen: Sie haben die Qualifikation ungeschlagen überstanden, aber seit September 2009 kein Spiel mehr gewonnen. Sie haben Andrea Pirlo, aber dahinter eben lange Zeit nichts. Sie haben Top-Stürmer wie Antonio di Natale, Torschützenkönig der Serie A, daneben so klangvolle Namen wie Vincenzo Iaquinta. Aber wenn die aus dem Mittelfeld nicht mit Flanken und Zuspielen gefüttert werden, verhungern sie vor dem gegnerischen Tor. Und das ist leider zu oft passiert. Dass es auch anders geht, haben die letzten zehn Minuten gegen die Slowaken bewiesen. Aber zehn Minuten von 270 sind einfach nicht genug. Fazit: blasser Sturm, ideenloses Mittelfeld.

Der Slowake Kamil Kopunek erzielt das dritte italilenische Gegentor im Endspiel um das Achtelfinale. Beim WM-Gewinn 2006 waren es im gesamten Turnier nur zwei.
(Foto: dpa)
Im Zentrum konnte Riccardo Montolivo die Lücke Pirlos nicht ausfüllen. Was auch nicht verwunderlich ist. Er hätte einen zweiten Strategen an seiner Seite gebraucht. Daniele de Rossi hätte diese Rolle übernehmen müssen. Aber vor allem gegen die Slowakei blieb der Roma-Spieler blass. Ahnlich wie Per Mertesacker gegen Ghana unterliefen dem ansonsten so ballsicheren Sechser zu viele Fehler und wurden leider auch bestraft. Einer führte zum 1:0 durch den Slowaken Robert Vittek. Sein Können ließ de Rossi vor allem gegen Paraguay aufblitzen. Montolivo war gegen Neuseeland stark. Hätten beide ihre Normalform gegen die Slowakei auf den Platz gebracht, würde es diesen Artikel jetzt nicht geben.
Drei Spiele, fünf Gegentore
Zur Abwehr: Okay, Fabio Cannavaro ist in die Jahre gekommen. Na und? Es gibt keine alten oder jungen Fußballer. Es gibt nur gute oder schlechte. Gut, von seiner 2006er Form war Cannavaro weit entfernt. Aber ich bin mir sicher, spätestens im Achtelfinale gegen Arjen Robben oder Wesley Sneijder hätte er seine wahre Klasse konstant über bis zu 120 Minuten gezeigt. So blitzte sie nur ab und an auf. Im Nachhinein zu wenig, um die Gruppe F zu überstehen. Bei der vergangenen WM in Deutschland lediglich mit zwei Gegentoren, hat Italien in nur drei Spielen derer fünf Tore kassiert – auch wegen Cannavaro. Der ehemalige Weltfußballer – er hat das als Manndecker geschafft! – wird seine internationale Karriere nun beenden, als amtierender Weltmeister ist er in der Vorrunde gescheitert.
Auch Gigi Buffon teilt dieses Schicksal. Auch wenn er nur eine Halbzeit spielen konnte, es im Rücken zu haben ist wirklich schmerzhaft, merkte man ihm vor allem gegen die Slowakei seinen unbändigen Siegeswillen an. An der Seitenlinie sorgte er lange Zeit für mehr Action als seine Azzurri auf dem Platz. Um es kurz zu machen: An seinem Nachfolger im italienischen Tor, Federico Marchetti, lag es nicht, dass die Elf von Lippi ausgeschieden ist. Einen Patzer, wie bei so vielen anderen Torhütern bei dieser WM, sucht man bei ihm vergebens. Ihm gehört die Zukunft. Und ähhnlich wie in Deutschland gilt auch für Italien: Ein Torwartproblem wird es bei ihnen nie geben.
Lippi mit grandezza
Bleibt noch der Trainer: Marcello Lippi. Ein Name, den sich Taktikfans auf der Zunge zergehen lassen. Vielleicht hat er das viel zu frühe Ausscheiden zu verantworten. Er hat den Kader nominiert. Hat dafür gesorgt, dass mit Francesco Totti oder Antonio Cassano mögliche offensive Alternativen zu Pirlo gar nicht mit nach Südafrika gereist sind. Aber Lippi hat auf das Team gesetzt. Hat vorher bereits klar gesagt: "Die Mannschaft ist der Star." Leider hat das Team diesen Ruf nicht vernommen. Jeder der Spieler – abgesehen von Marchetti – hatte bei den drei Vorrundenspielen mindestens ein schwaches Spiel. In der Summe war das diesmal leider zuviel. Den Trainer trifft deshalb nur eine Teilschuld. Auch wenn Lippi, ganz Gentleman, nach dem WM-Aus die volle Verantwortung auf sich nimmt. Das ringt Respekt ab –mehr aber auch nicht, denn unterm Strich steht: Weltmeister Italien, Vorrundenaus bei der WM in Südafrika.
Addio, Italia! Ciao, Italien! Dov’è la vittoria???
Quelle: ntv.de