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Alles gegeben, nichts bekommen Gefeiertes DHB-Team sorgt selbst für die große Tragik

Juri Knorr spielt am Sonntag um EM-Bronze. Doch daran denkt im Moment noch niemand.

Juri Knorr spielt am Sonntag um EM-Bronze. Doch daran denkt im Moment noch niemand.

(Foto: picture alliance / nordphoto GmbH)

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft hätte ein Wunder gebraucht, um Dänemark zu schlagen. Sie bieten dem Topfavoriten auf den EM-Titel im Halbfinale einen großen Kampf, führen lange - und sind am Ende enttäuscht. Die Ernüchterung erzählt viel über das Spiel.

Was ist da in der Lanxess-Arena passiert?

"Die beste Leistung der letzten Jahrzehnte" hatte Bundestrainer Alfred Gislason von seiner Mannschaft eingefordert, um die Dänen, diese übermächtige Super-Mannschaft voller Ausnahmekönner schlagen zu können. In neun von zehn Spielen, so waren sie sich einig, würden sie gegen Dänemark verlieren. Aber der eine Tag, der Tag des Wunders von Köln, hätte heute sein sollen. Er wurde es nicht. Obwohl die deutsche Mannschaft alles investiert hatte, obwohl sie vor allem in der ersten Hälfte die meisten Vorgaben des Bundestrainers erfüllt hatten. 26:29 hieß es am Ende. Deutschland trauerte mit leerem Blick, Dänemark setzt seine Mission Titelgewinn fort.

Die deutschen Fans, die von den Spielern offensiv mit in die Verantwortung für dieses Spiel genommen wurden, brannten: Die Nationalhymne Dänemark war noch gar nicht zu Ende, da klatschten die Fans schon. In Erwartung des großen Spiels, bereit, den geforderten Beitrag zu leisten. Und sie legten begeisternd los, auf den Rängen und auf dem Feld: Deutschlands Mentalitätsspieler Nummer 1, der Kieler Rune Dahmke, lief früh in Abwehr und Angriff heiß. Der für den abgereisten Kai Häfner im rechten Rückraum aufgebotene Renars Uscins spielte, als hätte nicht Häfner, sondern er selbst, der U21-Weltmeister, 2016 den EM-Titel geholt. Als Christoph Steinert schon in der 5. Minute Dänemarks Simon Pytlick mit Macht niederrang, war der Ton für dieses Spiel gesetzt.

Die deutsche Mannschaft schaffte das, wovor sie sich in Dänemark Sorgen gemacht hatten: Sie stellten eine Abwehr, die hundert Arme und Beine aus Gummi zu haben schienen. Den flinken Einzelkönnern begegneten sie mit gewaltiger Intensität. Statt des von Torwart Andreas Wolff befürchteten Scheibenschießen boten die deutschen Spieler den Dänen einen wilden Handballkampf an. Es war exakt das Spiel, das sie dem haushohen Favoriten liefern wollten. "Wir haben uns 60 Minuten lang auf die Schnauze gehauen", resümierte Steinert hinterher. Dänemarks Superstar Mathias Gidsel, dessen Kreise die deutsche Verteidigung so erfolgreich einengte, wie es noch keinem Team bei diesem Turnier gelungen war, sah aus, als hätte er mit einem Bären gerungen. Die Wahrheit war vom Bild nicht weit entfernt.

"Wahnsinnig intensiv, emotional, gnadenlos in der Abwehr und Renars Uscins ist wie Phönix aus der Asche gekommen", lobte DHB-Sportvorstand Axel Kromer zur Halbzeit. Eine höhere Effizienz am Angriff sollte ein Schlüssel auf dem Weg zum Wunder sein. Und sie hielten Weltklassekeeper Niklas Landin bei 25 Prozent gehaltener Bälle. Der mehrfache Welttorhüter kam nach der Pause nicht mehr aufs Feld. Und das war das Problem. Denn die Dänen haben da noch Emil Nielsen, einen zweiten Klassemann. Und der schlug den Deutschen die Tür wieder vor der Nase zu. Acht Paraden sammelte der 26-Jährige bis Mitte der zweiten Hälfte, aus einem Rückstand machten die Dänen eine Führung und gaben die nicht mehr ab.

Das Ensemble von Topstars steigerte sich, die deutsche Abwehr bekam nicht mehr so gnadenlos den Zugriff auf die dänischen Schützen. Sagenhafte 74 Prozent Angriffseffektivität brachte der Topfavorit in der zweiten Halbzeit auf die Platte, rund 100 Pässe hatten sie am Ende mehr gespielt. Dem DHB-Team gingen sichtbar die Kräfte aus, auch wenn sie sich bis zur letzten Sekunde mit allem wehrten, was sie hatten.

"Ich bin sehr, sehr stolz auf uns", sagte Kapitän Johannes Golla im ZDF. "Vor allem über die erste Halbzeit, aber auch über 60 Minuten Kampf, den wir geliefert haben." Am Ende feierte die Halle die deutsche Mannschaft, als hätte sie gewonnen. Es ist die große Tragik: Sie hatten alles für ein Wunder getan, aber Mentalität schlägt diese große Qualität eben nur in einem von zehn Spielen. Dieser eine Tag, er war nicht heute.

Die Szene des Spiels:

Die Szenen des Spiels spielten sich erst weit nach Spielende ab: Wer wissen möchte, wie Männer aussehen, die alles in einen Traum investiert hatten und diesen platzen sehen mussten, musste sich nur die deutschen Spieler anschauen. Es gab keinen Trotz, kein "Jetzt erst recht", auch noch keinen Stolz über das bei dieser EM im Allgemeinen und in diesem schwersten Spiel, das der Welthandball derzeit zu bieten hat, im Speziellen Erreichte. Es war nur Leere. Auf der Bank saßen sie, auf dem Feld. Sie starrten auf den Boden oder in die Luft. Rune Dahmke, Johannes, Golla, Juri Knorr, Christoph Steinert. Jeder für sich. "Jetzt holen wir uns die Medaille", versprach Rune Dahmke den Zuschauern zum Abschied. "Aber ich bin einfach leer gerade." Es dauerte ewig, bis sie sich aufrafften, um in die Kabine zu schleichen.

Der Grad der Enttäuschung erzählt eben auch viel darüber, was sie alles hineingeworfen hatten und wie nahe sie sich dranfühlten, auch wirklich etwas ganz Großes herauszubekommen. "Heute war ein Tag, an dem wir Dänemark hätten schlagen können. Deshalb ist die Enttäuschung so groß", sagte Steinert. Sie hatten die Hand lange nahe an den Sternen, deshalb war die Fallhöhe am Ende so groß.

Wie groß sie war, zeigte auch ein Blick in die Kabine der Dänen: Dort schrie Trainer Nikolaj Jacobsen seine Erleichterung und seine Freude in alle Richtungen. Auch für den Weltmeistermacher waren die 60 Minuten zuvor Schwerstarbeit. "Ich bin sehr stolz auf Jungs, sie haben eine phänomenale erste Halbzeit geliefert. In der zweiten Halbzeit haben wir zu viel verworfen", sagte Bundestrainer Alfred Gislason im ZDF: "Letztendlich hat sich die Routine der Dänen durchgesetzt, sie sind die beste Mannschaft der Welt."

Und, wären wir Europameister geworden?

Ein Blick in die Geschichte der großen deutschen Handballtriumphe der letzten 20 Jahre spricht auf alle Fälle eine deutliche Sprache: Sowohl beim Wintermärchen 2007 als auch beim EM-Triumph der "Bad Boys" 2016 schlug die deutsche Mannschaft im Finale ein Team, gegen das sie in der Vorrunde des jeweiligen Turniers noch verloren hatten. 2007 traf man zweimal auf Polen, 2016 revanchierte man sich im Finale an Spanien für eine Pleite in der Vorrunde. Im Finale hätte Frankreich gewartet, das das DHB-Team in der Vorrunde 33:30 geschlagen hatte. Aber Geschichte wiederholt sich nicht. Zumindest nicht bei der Handball-EM 2024.

Die deutsche Mannschaft hätte den perfekten Tag gebraucht, um Dänemark zu schlagen. Den hat sie nicht kreieren können. Es bleibt müßig, über das Finale nachzudenken. Gegen Schweden am Sonntag (15.00 Uhr/ARD, Dyn und ntv.de-Liveticker) geht es nun um Platz drei und um Bronze. Auch das wäre der größte Erfolg des deutschen Handballs seit Olympiabronze 2016. Mit dem dritten Platz bei der EM ist auch die direkte Qualifikation für die Olympischen Spiele im Sommer verbunden. Es warten neue, lohnende Ziele.

Der Schock vor dem Anpfiff:

Um 18.51 Uhr, knapp zwei Stunden vor dem Anwurf des großen Spiels, machte der DHB eine bittere Nachricht offiziell, die vorher schon als Gerücht durch die Katakomben der Arena gekrochen war: Kai Häfner würde der deutschen Mannschaft kurzfristig nicht zur Verfügung stehen. "Der Linkshänder reiste aus privaten Gründen aus dem Teamquartier ab", hieß es in der Mitteilung. Häfner hatte schon das Vorrundenspiel der DHB-Auswahl in Berlin gegen Nordmazedonien verpasst, weil er kurz zuvor zum zweiten Mal Vater geworden war. Es gibt Dinge, die sind wichtiger als ein Handballspiel.

Stimmen:

Johannes Golla (DHB-Kapitän im ZDF): "In der zweiten Halbzeit haben wir nicht mehr ganz den Zugriff gekriegt, in der Abwehr wie in der ersten Halbzeit. Das hat natürlich auch mit dem guten Spiel der Dänen zu tun. Dazu lassen wir auch einige Möglichkeiten liegen, frei vor dem Tor. Man muss den Torwart der Dänen loben, Emil Nielsen, der Wechsel hat sich gelohnt. Aber trotzdem bin ich sehr, sehr stolz, vor allem auf die erste Halbzeit - aber auch auf 60 Minuten Kampf, den wir geliefert haben. Ich glaube, an einem perfekten Tag ist etwas drin, dann können wir das über die gesamten 60 Minuten durchhalten. Heute war nicht der perfekte Tag, wir werden bei uns in der Analyse auch Fehler finden und Sachen, die wir auch deutlich besser machen können. Von daher: Sicherlich ist Dänemark uns derzeit überlegen aktuell, aber das hat gezeigt, dass wir auf einem guten Weg sind."

Quelle: ntv.de

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