Großmeister sind "geschockt" Ist diese Schach-WM wirklich so fürchterlich?
02.12.2024, 19:30 Uhr
Ding Liren kämpft derzeit vor allem mit sich selbst.
(Foto: IMAGO/Xinhua)
Ding Liren ist amtierender Schach-Weltmeister und versucht derzeit, seinen Titel gegen den Inder Dommaraju Gukesh zu verteidigen. Trotz großer psychischer Probleme, die ihn seit seinem Triumph im vergangenen Jahr quälen. Nach sechs Partien steht es 3:3. Auf einen vielversprechenden Auftakt folgt für viele Experten die große Ernüchterung. Es hagelt massive Kritik von enttäuschten Großmeistern. Sie beklagen das schwache Niveau der Auseinandersetzung. Das Schach-Genie Magnus Carlsen schiebt Frust beim Zuschauen, Hikaru Nakamura ist von der Passivität des Weltmeisters gar "geschockt". Sind die Vorwürfe an dieses Duell gerechtfertigt? Ist dieses Turnier bislang eine einzige große Enttäuschung? Der internationale Meister und bekannte Schach-Youtuber Georgios Souleidis analysiert die bisherige WM bei ntv.de.
ntv.de: Hallo Herr Souleidis, ich falle direkt mal mit der Tür ins Haus: Ist diese WM wirklich so fürchterlich, wie von vielen Seiten beklagt wird?
Georgios Souleidis: Nein, das ist die WM nicht. Das ist Quatsch. Es gibt berechtigte Kritik an der Qualität der Partien und der Spieler. Es ist nicht das hochklassige Match, das wir in der Vergangenheit öfter gesehen haben, insbesondere unter Beteiligung von Magnus Carlsen. Oder wenn wir noch ein bisschen weiter zurückgehen, mit den Großmeistern Gari Kasparow oder Anatoli Karpow, deren WM-Duelle in den 80er und 90er Jahren hatten mehr Qualität. Es war allerdings auch nicht zu erwarten, dass Ding und Gukesh daran anknüpfen.
Warum das?
Sie sind in der Weltrangliste die Nummern 5 und 22. Und bei Ding kennt man ja auch die psychischen Probleme, die nach dem WM-Titel gekommen sind. Er litt an Depressionen und ließ sich sogar im Krankenhaus behandeln. Anfang dieses Jahres kehrt er dann auf die große Schachbühne zurück, gewann aber bis zur WM von 28 Spielen kein einziges. Deshalb konnte ja auch niemand erwarten, dass er jetzt wieder auf dem Niveau spielt wie zu jener Zeit, als er Weltmeister geworden ist oder eben auch davor. Für mich ist vielmehr überraschend, dass er gerade überhaupt so gut spielt und mithalten kann.
Die erste Partie im aktuellen WM-Duell mit Gukesh hatte er direkt gewonnen. Das war ein dickes und überraschendes Ausrufezeichen. War Ding so stark oder Gukesh zu nervös?
- Georgios Souleidis ist ein Schachspieler im Rang des internationalen Meisters.
- Bei Youtube und Twitch analysiert und kommentiert er unter anderem täglich ausführlich die Partien der WM. Hier geht es zu seinem Kanal "The Big Greek".
- Zudem ist er Teilhaber einer Schachakademie und bietet dort Schachkurse an.
Ja, Gukesh war definitiv viel zu nervös und ist es übrigens auch immer noch. Er hatte in diesem Spiel ein paar ganz schlechte Züge dabei, Ding konnte das ausnutzen. Gukesh war übermotiviert, das hat man klar gesehen. Er spielt die WM bislang ohnehin risikofreudiger. Ding dagegen reagiert fast nur auf seinen Gegner und hat dabei einige Chancen ausgelassen. Er ist am Brett insgesamt sehr friedfertig unterwegs.
Reichlich Kritik prasselte auf Ding nach Partie fünf ein. Bundestrainer Jan Gustafsson war gar "traurig", dass Ding eine fast gewonnene Stellung schnell in ein erneutes Remis verwandelt hatte. Was war passiert?
Das war wirklich frappierend. Ding bekam die Chancen auf dem Präsentierteller serviert. Aber er hat sie einfach nicht wahrgenommen. Er hätte dabei ganz risikolos auf Sieg spielen können. Aber er hat es nicht mal versucht. Für niemanden, nicht mal für uns Spieler aus der zweiten Reihe, war zu erklären, warum er so schnell auf Remis ging. Die Partie war bereits im Endspiel, die Stellung schon übersichtlich. Ding hat einen Bauern mehr, er konnte kaum noch Fehler machen. Man kann diese Zurückhaltung nur mental erklären, das hat nichts mit Können zu tun. Er wirkte einfach froh, nicht verloren zu haben. Da fehlt der Killerinstinkt, der ihn früher ausgezeichnet hat und Großmeister generell auszeichnet. Viele andere hätten in der Situation stundenlang weitergespielt und wären voll auf Sieg gegangen. Es ist allzu offensichtlich, wie sehr Ding mit sich kämpft.
Ist es fast schon tragisch mit anzusehen, wie schlecht es Ding offenbar geht?
Es ist traurig, das zu sehen, ja. Alle in der Schachwelt hatten Mitleid mit ihm, als seine Probleme bekannt wurden. Weil er einfach auch ein sehr sympathischer Mensch ist. Derzeit kommt er mir aber vor wie ein Häufchen Elend. In den Pressekonferenzen spricht er sehr leise, seine Schultern hängen herunter, die Arme sind unter dem Tisch. Weder körperlich noch verbal wirkt er wie ein selbstbewusster Sportler. Wir alle hatten gehofft, dass er seine Probleme bis zur WM in den Griff bekommt und wieder der Alte wird. Aber das ist in diesem Jahr nicht passiert, er hat wirklich fürchterlich gespielt. Dass er nun ausgerechnet bei der WM, wo der Druck am höchsten wird, alles hinter sich lässt, hat niemand erwartet. Umso erstaunlicher ist eben, dass er so gut mithält. Aber was mir noch wichtiger ist: Die Gesundheit steht im Vordergrund. Ich und wir alle in der Schachwelt wünschen ihm, dass er schnell gesund wird.
Hätte er nicht einfach auf die WM-Teilnahme verzichten können?
Ja, er hätte verzichten können. Aber das stand nie im Raum. Von offizieller Seite, vom Schachweltverband, gab es zumindest nie irgendwelche Bestrebungen, Ding in diese Richtung zu bewegen. Und auch von Ding war nie zu hören, dass er verzichtet oder auch nur darüber nachdenkt.
Kommen wir noch einmal zurück zum Sportlichen. Was müsste passieren, damit Ding seinen Titel verteidigt?
Er müsste seine mentalen Probleme in den Griff bekommen. Aber man hat es ja beispielsweise in Spiel drei gesehen, das er verloren hat. Das beschäftigt ihn. Nach diesem Duell hat er wieder zu zweifeln angefangen, an sich und seinem Spiel. Zu seinen besten Zeiten war er extrem stark, fast auf dem Niveau von Carlsen. Aber derzeit scheint es ihm nur darum zu gehen, nicht zu verlieren. Das ist schon ein Erfolg. Denn die meisten Experten, ich auch, waren davon ausgegangen, dass Gukesh über ihn hinwegfegt, ihn an die Wand spielt (Anmerkung der Redaktion: Magnus Carlsen befürchtete ganz martialisch gar "ein Blutbad" für Liren).
Seinen WM-Titel gewann Ding im Schnellschach nach den regulären Duellen. Setzt er vielleicht auch dieses Mal wieder auf seine Qualitäten dort?
Nein, daran denkt er nicht.
Was kann Gukesh denn tun, um das Duell jetzt schnell auf seine Seite zu ziehen?
Er muss unbedingt endlich seine Nervosität abstreifen. Es ist schon überraschend, dass ihm das noch nicht gelungen ist. Normalerweise bist du nach zwei, drei Partien absolut drin. Aber bislang kommt er nicht an sein bestes Schach heran, das er in diesem Jahr schon mehrfach beeindruckend gezeigt hat. Eigentlich gehe ich schon davon aus, dass er sein maximales Niveau noch erreichen wird. Und dann wird das Duell zu seinen Gunsten drehen. Ding traue ich bei seinen Problemen einfach nicht zu, dass er noch den radikalen Turnaround schafft. Er wird zwar noch seine Gelegenheiten bekommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie nutzen wird, wenn er selbst so offensichtliche Siegchancen wie in Partien fünf nicht zu nutzen probiert.
Kommen wir noch mal zur Eingangsfrage zurück. Wenn das Niveau nicht so hoch ist, was macht dann die Faszination für dieses Duell aus?
Eigentlich ist es ja egal, wer spielt. Die Schach-WM, dieses Duell Mann gegen Mann, übt immer eine große Faszination aus. Das merken wir jedes Jahr an der weltweit großen Aufmerksamkeit. In diesem Jahr liegt die Faszination vielleicht darin, dass Gukesh mit 18 Jahren der jüngste Weltmeister aller Zeiten werden kann. Er gehört zur neuen Generation der indischen Großmeister, steht in der Nachfolge der Legende Viswanathan Anand. In Indien gibt es einen gewaltigen Boom. Die gucken Schach wie wir Fußball. Oder einst Boris Becker. Diese Dynamik zwischen den Polen "junges Talent" gegen "mit sich kämpfendes Genie" sorgt einfach für eine enorme Spannung.
Mit Georgios Souleidis sprach Tobias Nordmann
Quelle: ntv.de