Sport

Zwischen Dämonen & Wunderzeiten Lyles befeuert die wildesten Sprint-Träume

Ein neuer Lauf-Titan: Noah Lyles.

Ein neuer Lauf-Titan: Noah Lyles.

(Foto: IMAGO/Chai v.d. Laage)

Noah Lyles schenkt der Leichtathletik-WM einen spektakulären Moment. Über 200 Meter läuft er in Sphären des unerreichten Usain Bolt. Die ekstatische Party nach dem furiosen Sprint will aber so gar nicht zur bewegenden Geschichte des amerikanischen Wunderkinds passen.

Schon einmal hatte Noah Lyles die Grenzen der Leichtathletik verschoben. Vor zwei Jahren pulverisierte er den 200-Meter-Weltrekord von Usain Bolt. Unfassbare 18,90 Sekunden standen auf der Uhr, als der Amerikaner bei den "Inspiration Games" die Ziellinie überquert hatte. Die Welt war verblüfft. Wie war das denn möglich? Nun, die Antwort war so einfach wie unglaublich: Noah Lyles war "nur" 185 Meter gerannt. Ihm war die falsche Linie am Start zugewiesen worden. "Ihr könnt nicht so mit meinen Gefühlen spielen", schrieb der damals 23-Jährige nur wenig später in den sozialen Medien. Die Gefühle, sie sind die Achillesferse des Sprintstars.

Zwei Jahre und knapp zwei Wochen später hat sich Lyles mit seiner Welt versöhnt. Bei der Weltmeisterschaft in Eugene läuft er die 200 Meter in 19,31 Sekunden. Es ist die drittschnellste je gelaufene Zeit über diese Distanz. Es ist eine spektakuläre Show. Auf der Bahn und nach dem Triumph. Lyles ist ein Typ in Bolt'schen Sphären. Mit den Spikes unter den Schuhen und beim Entertainment der Zuschauer. Der 25-Jährige ist weniger Charming-Boy als der Jamaikaner, aber eben auch einer, der sich zu inszenieren weiß. Anders als Fred Kerley, der 100-Meter-Champion, der im Halbfinale über die doppelte Distanz eingebrochen war, der als Mann ohne Lächeln gilt.

Als Lyles nun im Ziel war, als er die Sprintkonkurrenten ewig weit hinter sich gelassen hatte, gönnte er sich einen kleinen Moment, ehe das Aftershow-Programm startete. Ein "Gespräch" mit der weltbekannten gelben Uhr am Zielstrich, die diese phänomenale Zeit gestoppt hatte (zunächst 19,32 Sekunden), dann ein Kniefall, ein kurzes Gebet - und schließlich die Eskalation: Schreie, wilde Schläge mit der flachen Hand auf seine Gold-Bahn und der Trikot-Riss. Lyles gab dem Publikum, was sie lieben. Was sie genauso lieben, wie das Duell auf der Bahn.

Raus aus dem "Sturm düsterer Gedanken"

Doch für Lyles gibt es noch ein anderes Duell. Eines, das für ihn viel schwieriger zu gewinnen ist. Das ehemalige Wunderkind der Sprintszene kämpft gegen sich selbst. Gegen die Dämonen in seinem Kopf. Immer wieder leidet der Mann aus Gainesville unter Depressionen. In Eugene hat er gewonnen. Gleich zweimal. "Ich habe gezeigt, dass ich in einen Sturm aus düsteren Gedanken geraten und wieder herauskommen kann." Auf diesen 200 Meter bei der Heim-Weltmeisterschaft alles gepasst. Seine mentale Verfassung, seine herausragende Qualität. "So viel Spaß hatte ich noch nie bei einem Leichtathletik-Wettkampf", sagte Lyles.

Das dürfte auch für die Jamaikanerin Shericka Jackson gelten, sie kratzte über 200 Meter am Fabel-Weltrekord der sagenumwobenen US-Sprinterin Florence-Griffith Joyner. Die 28-Jährige donnerte die halbe Stadionrunde in phänomenalen 21,45 Sekunden entlang - nur elf Hundertstel fehlten ihr zur "Flo-Jo"-Bestmarke aus dem Jahr 1988. Ein Hundertstel mehr fehlte Lyles zum Weltrekord, der eben bei 19,19 Sekunden verbleibt. Und dennoch befeuert er die wilden Träume der Sprintszene. Endlich ein Mann, der in Bolt'schen Dimensionen dominiert.

"Das war der letzte Nagel im Sarg"

Tatsächlich kam er wieder einmal aus einem ganz tiefen Tal. Es ist wieder so eine Geschichte, die die Amerikaner so sehr lieben. Ein Held mit einem schweren Bruch im Lebenslauf. In den vergangenen zwei Jahren (und ein paar Monaten) war verdammt viel über ihn hereingebrochen, zu viel: erst die Pandemie, dann die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio und schließlich die Black-Lives-Matter-Bewegung. Es ging bis an die Grenzen der Erträglichkeit, und darüber hinaus. "Am schlimmsten war es im April (Anmerk. d. Red. im Jahr 2020)", sagte Lyles damals im August. "Es war der perfekte Sturm aus all diesen Dingen. Dann denkst du dir: Okay, worauf soll ich meine Aufmerksamkeit jetzt richten?" Vor allem die durch den gewaltsamen Tod des Schwarzen George Floyds seitens weißer Polizisten ausgelöste Bürgerrechtsbewegung beschäftigte ihn: "Das war der letzte Nagel im Sarg."

Er sei, so gestand er, "an den Punkt gekommen, wo ich gesagt habe: Ich kann das hier nicht mehr!" Seine Mutter Keisha Cane war es, die ihn zu einem gravierenden Schritt bewegte: "Sie hat einfach gesagt: 'Es ist Zeit, dass du anfängst, Medikamente zu nehmen'. Ich stimmte zu, denn alles, was ich tat, das mir zuvor geholfen hatte, hat mir nicht mehr geholfen", bekanner und so nahm Lyles Antidepressiva: "Es war eine der besten Entscheidungen, die ich seit einer Weile getroffen habe", schrieb er auf seinem Twitter-Kanal. Seitdem könne er denken "ohne den dunklen Unterton, dass alles egal ist". Parallel dazu wurde er von zwei Therapeuten betreut.

Bewegender Monolog nach Tokio-Bronze

Seiner Psyche ging es besser, aber seine Physis litt. Als die Olympischen Spiele, sie waren sein großer Traum, ein Jahr später doch angesetzt wurden, setzte der Sprinter seine Medikamente schließlich ab. Er gewann Bronze. Aber glücklich war er nicht. Wie die "Neue Züricher Zeitung" nun noch einmal berichtet, brach es nach dem Lauf aus ihm heraus. In einem siebenminütigen Monolog berichtete er über Schwächen und Schmerzen. Er schüttete sein Herz aus. Lyles war nicht mehr das Sprint-und Showmonster, sondern ein verletzlicher Athlet. Ein weiterer. In Tokio hatten die Systeme von Turn-Ikone Simone Biles unter dem immensen Druck vorübergehend versagt.

Lyles sagte dazu: "Jetzt, da wir bei den Olympischen Spielen sind, beobachten uns so viele Leute und denken: Oh, vielleicht sagen sie die Wahrheit. Viele Leute sehen Sportler nicht als Menschen an. Sie sehen uns entweder nur als Berühmtheit, Übermensch oder Superheld. Und obwohl wir Dinge tun, die viele Menschen nicht können, haben wir immer noch das gleiche Leben wie viele normale Menschen." Auch Athleten "haben Emotionen. Vertrauen, und glauben Sie mir, wenn wir beleidigt werden, spüren wir das. Es tut weh."

Nicht nur Sprinter, auch Artist

Mehr zum Thema

Am Abend von Eugene, am Abend seines spektakulären Gold-Laufs waren die Schmerzen vergessen. Lyles genoss den Triumph. Er zelebrierte ihn. Und das unter den staunenden und begeisternden Blicken der Sprintlegenden Tommie Smith und John Carlos, die seit ihrem Black-Power-Protest bei den Olympischen Spielen 1968 absolute Helden sind. Auch Lyles reckte vor einem Rennen schon die Faust in einem schwarzen Handschuh nach oben. Er reckte sie auch dieses Mal. Es war weniger Botschaft als Geste des Triumphs.

Vor der WM in seiner Heimat berichtete der neue Weltmeister, zum zweiten Mal nach 2019 in Doha, von seinem langen Weg zurück. Und ein Post des legendären Sprinters Michael Johnson, so sagte Lyles der "New York Times" habe ihm diesen Weg geebnet. "Die Leute gehen nicht ins Stadion, um dich rennen zu sehen. Sie gehen hin, weil es ihnen Spaß macht, dir zuzusehen." Sein Therapeut habe ihm erklärt, dass er nicht nur Sportler, sondern auch ein Artist sei. Und Artisten, bräuchten eine Bühne, ein Publikum. Lyles hatte verstanden. Er hatte geliefert. Die Grenzen der Leichtathletik, sie bleiben aber (vorerst) wie sie sind.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen