Die furchtlosen Wagner-Brüder Eine NBA-Sensation, made in Germany
17.12.2023, 17:15 Uhr
Moritz Wagner setzt an den Brettern entscheidende Impulse.
(Foto: AP)
Eigentlich hätte Orlando noch Zeit gehabt, das junge Team galt nicht zwingend als Playoff-Anwärter. Nach dem ersten Saisonviertel in der NBA gehören die Magic jedoch überraschend zur Spitzengruppe. Zwei deutsche Weltmeister haben daran maßgeblichen Anteil.
Der 139:120-Sieg der Orlando Magic gegen katastrophale Washington Wizards war standesgemäß und nichts Besonderes, an einem x-beliebigen Mittwoch in der National Basketball Association. Eine Highlight-Aktion von Jalen Suggs und Cole Anthony jedoch untermauerte so ziemlich alles, was man über das Überraschungsteam dieser Saison wissen muss: Suggs klaute in der Defensive den Ball, sprintete nach vorne und legte per Alley-Oop perfekt für Anthony auf. Passgeber Suggs breitete die Arme dann weit aus, während im Hintergrund sein Teamkollege, Sekunden in der Luft hängend, den Ball spektakulär durch den Ring stopfte.
Es war nicht nur eine Hommage an die legendäre Poster-Aktion der beiden Megastars Dwyane Wade und LeBron James im Trikot der Miami Heat 2010, sondern zugleich Sinnbild der Spielfreude und Stärke dieses jungen Teams aus Florida. Orlando platziert auch nach acht absolvierten Wochen unter den Top-Vier in der Eastern Conference, hat zuletzt den Franchise-Rekord für die meisten Siege in Folge (neun) egalisiert und stellt eine der besten Defensiven der gesamten Liga.
Jung, furchtlos, aggressiv - so präsentierte sich die Truppe von Cheftrainer Jamahl Mosley in der Frühphase dieser Saison. Nur die Titelanwärter Boston, Milwaukee und Philadelphia weisen im Osten eine bessere Bilanz auf, und gemessen an den Erwartungen vor der Saison verblüfft das viertjüngste Team der NBA sogar noch mehr als die anderen Aschenputtel-Stories wie Minnesota oder Oklahoma City, die ihrerseits in der Western Conference für Aufsehen gesorgt haben.
"Wagner Bros." als Schlüsselfiguren
Es gibt gute Gründe für den Turnaround dieses Klubs, der lange zu den schwächsten der Liga zählte. Zwei davon sind in Berlin geboren, teilen sich in Orlando eine Bude und verhalfen vor wenigen Monaten der deutschen Nationalmannschaft zum sensationellen Gewinn der WM-Goldmedaille: Franz und Moritz Wagner, die ähnliche Wege über ALBA Berlin und die Universität Michigan in die NBA bestritten - und in Orlando zum ersten Mal in ihrem Leben über einen längeren Zeitraum zusammenspielen dürfen. Die Nähe zueinander tut beiden sichtlich gut, genau wie ihre jeweiligen Stärken diesem Team.
Franz, vier Jahre jünger und drei Zentimeter kleiner als der große Bruder, hat in seiner dritten Saison einen weiteren Sprung nach vorne gemacht und sich nicht nur als Orlandos vielseitigster Profi etabliert, sondern sich in den Dunst des All-Star Games gespielt. Er ist bester Scorer (20,5 Punkte pro Partie), drittbester Passgeber (3,8 Assists pro Partie), viertbester Rebounder (5,7 Rebounds pro Partie) und vermehrt der Go-to-Spielmacher, wenn Orlando dringend einen Korb braucht. Seine Vielseitigkeit, gemischt mit einem verblüffenden Basketball-IQ und der Ruhe eines Veteranen, hat ihn längst zu einer der größten Säulen hier gemacht. "Franz ist Franz! Was soll ich über den Jungen noch sagen? Für mich wird er früher oder später einer der zehn besten Spieler der Welt sein. Ein super Typ. So vielseitig, so talentiert. Schwer zu fassen, dass er erst 22 Jahre alt ist. Er zeigt eine super Saison bisher", beschreibt Bundestrainer Gordon Herbert im Gespräch mit ntv.de die Leistungen des Jungstars.
Für Bruder Moritz war der Weg zum Schlüsselspieler viel umwundener. Nach seiner Rookie-Saison von den Los Angeles Lakers zu den Washington Wizards getradet, kam erst die Corona-Saison, dann ein weiterer Trade zu den Boston Celtics, die ihn wenige Monate später nach nur neun absolvierten Partien entließen. Orlando schnappte sich den vertragsfreien Wagner für die finalen Wochen der Saison 2020-21 und gab ihm endlich eine sportliche Heimat.
Der ältere Wagner legt in seiner mittlerweile sechsten Profisaison neue Karrierebestleistungen bei den erzielten Punkten, der Trefferquote und der Effizienz auf. Mit 11,9 Zählern pro Partie gehört er zu den besten Reserve Big Men der Liga, bringt Abend für Abend den Zunder von der Bank - Trashtalk und Gegner irritieren mit inbegriffen. "Für Moritz freut es mich ganz besonders, wie er in die neue Spielzeit gestartet ist", sagt Herbert. "Es ist nicht lange her, da wusste man nicht genau, ob er sich in der NBA halten kann, aber er hat in Orlando die perfekte Situation für ihn gefunden und sich seine eigene Nische ausgehöhlt. Er kommt von der Bank und gibt seinem Team ausgezeichnete Leistungen. Das freut mich sehr für ihn, weil er so ein fantastischer Mensch ist."
Drei Stars werden weggeschickt
Lange ist es her, dass die Fans im Land von Mickey Mouse & Co. Gewinner-Basketball bestaunen durften. Seit 2010 haben nur Detroit, Minnesota, Sacramento und Charlotte weniger Siege eingefahren. Seit vier Jahren stand Orlando nicht mehr in den Playoffs, die bisher letzte gewonnene Serie liegt mehr als 13 Jahre zurück. Das letzte Mal, dass Orlando neun Partien in Folge gewinnen konnten, war in der Saison 2010-11, als Dwight Howard, Hedo Turkoglu, Jason Richardson, Jameer Nelson und Brandon Bass die Starter waren und das Team von Stan van Gundy gerade zwei Mal in Folge die Conference Finals erreicht hatte. 2009 verloren die Magic erst in den NBA Finals gegen die Los Angeles Lakers von Kobe Bryant.
Vor etwas weniger als drei Jahren, während der Trading Deadline 2021, legten die Entscheider den Grundstein für eine rosigere Zukunft. Die Erkenntnis, im unteren Mittelfeld gefangen zu sein, veranlasste die damaligen Verantwortlichen Jeff Weltman und John Hammond, die drei besten Spieler Nikola Vucevic, Aaron Gordon und Evan Fournier am selben Tag weg zu traden und auf den Draft zu setzen. Wenige Monate später verpflichteten sie mit Jamahl Mosley einen der jüngsten Head Coaches aller Zeiten. Was folgte, war eine komplette Neuausrichtung, sowohl personell, als auch spielerisch-taktisch.
Das Front Office setzte auf lange, uneigennützige Spieler auf allen Positionen, die sich reinhängen und mit viel Energie auftreten. Acht eigene Erstrundenpicks stehen im aktuellen Magic-Kader - mehr als bei irgend einem anderen Klub in der NBA. Paolo Banchero (1. Pick, 2022), Franz Wagner (8. Pick, 2021), Jalen Suggs (5. Pick, 2021), Cole Anthony (15. Pick 2020), Jonathan Isaac (6. Pick, 2017), Chuma Okeke (16. Pick, 2019), Anthony Black (6. Pick 2023) und Jett Howard (11. Pick 2023) sind eine exzellente Basis für Gegenwart und Zukunft.
"Defense first" - Spaß aber auch
Als Mosley das Amt übernahm, legte er den Fokus auf die Abwehr. Er ließ eine Glocke im Trainingszentrum installieren, die immer dann geläutet wurde, wenn Spieler sich hinten besonders reinhängten, einen Angreifer stoppten oder besonderen Kampfgeist an den Tag legten. Der Pawlowsche Effekt sorgte dafür, dass "Defense first" Teil dieser Magic-DNA wurde. Orlando stellt heuer die drittbeste Defensive der Liga, gestattet Gegnern die wenigsten Rebounds und erzwingt die drittmeisten Ballverluste ligaweit. Typen wie Suggs, Gary Harris, Veteran Joe Ingles oder Shotblocker Jonathan Isaac geben hinten den Ton an. Sie beschützen den Ring und fliegen übers Parkett, um freie Würfe aus dem Halbfeld und von der Dreierlinie zu verhindern - oder sie zumindest zu erschweren.
Auch vorne wuppt das Kollektiv dank jugendlichem Elan und Überschwang. Abseits von Nummer eins Pick Banchero und Franz Wagner - die einzigen verlässlichen 20-Punkte Scorer Abend für Abend - gibt es weit und breit niemanden, der konstant Gefahr ausstrahlt. Was den Magic aber an Schützen, guter Raumaufteilung und smarten Spielmachern fehlt, machen sie mit ihrem Biss und ihrer Angriffsmentalität wett. Sie attackieren unerbittlich die Zone (nur zwei Teams erzielen dort mehr Punkte), üben Druck aufs Brett aus und ziehen immer wieder Fouls. Nur ein Team steht häufiger an der Freiwurflinie: die Philadelphia 76ers mit Superstar Joel Embiid, der im Alleingang auf zwölf Versuche pro Abend kommt.
Die Magic-Spieler unterstützen sich gegenseitig, kämpfen, beißen. Eine ehrliche, harte Malocher-Truppe, die mangelnde spielerische Qualität mit dem nötigen Einsatz wett macht. Das gilt nicht nur in der Verteidigung, sondern in allen unterbewerteten Aspekten des Spiels genauso: harte Cuts abseits des Balls, präzise und knallharte Blöcke, oder das diszipliniere Ackern um Position vor dem Rebound. Ein weiteres Markenzeichen ist die Tiefe im Kader und die Nähe der Protagonisten, auf dem Parkett und abseits. Als sich der etatmäßige Starter auf der Center-Position, Wendell Carter Jr., Anfang November die Hand brach, sprangen Moritz Wagner und Goga Bitadze in die Bresche. Der Georgier, zu Beginn seiner Karriere in Indiana nie wirklich zum Zuge gekommen, etablierte sich als Rammbock in der Zone und an den Brettern, während Wagner wie gewohnt dank seiner Energie und seines Scoring-Instinkts Orlando im Angriff mächtig Flügel verleiht.
Der Kurve weit voraus
Bereits im Vorjahr zeigten die Magic in der zweiten Saisonhälfte, wieviel in diesem Team steckt. Nach einem frustrierenden und demütigenden 5-20 Start in die Saison kriegten die Floridianer die Kurve, gewannen 29 ihrer finalen 57 Partien und platzierten auf Rang sechs bei der Effizienz in der Abwehr. Diesen Trend setzten sie auch 2023-24 fort. Man merkt ihnen das stete Wachstum an. Die nächsten Schritte in ihrer Entwicklung: vorne mehr Durchschlagskraft und Gefahr reinbringen. Es fehlt an verlässlichem Playmaking, das Spacing ist aufgrund der fehlenden Distanzschützen oft schlecht. Orlando wirft kaum Dreier, nimmt die wenigsten Distanzwürfe pro Partie und trifft die zweitwenigsten ligaweit. Die Offensive ist nicht zuletzt deshalb nur unteres Mittelmaß.
"Manchmal arbeitest du lange an einer Sache, und die Ergebnisse kommen nicht sofort", sagt Moritz Wagner. "Wir schuften hier jetzt schon drei Jahre an diesem Projekt, und wir sollten schätzen, was wir erreicht haben. Es ist hart, in dieser Liga mehrere Siege in Folge einzufahren. Die meisten von uns sind seit drei Jahren hier und die Energie und unsere Stimmung ist immer noch dieselbe wie zu Beginn. Das einzige, was sich verändert hat, sind die Siege. Wir lieben uns hier gegenseitig, spielen füreinander, und das ist genau die Art Team zu dem du dazugehören willst." So gut wie alle Protagonisten sind noch Jahre von ihrer Blütezeit als NBA-Profi entfernt. Orlando stellt das drittjüngste Team der Liga und führt gleich acht Akteure im offiziellen Kader mit maximal zwei Jahren Profi-Erfahrung. Banchero ist gerade einmal 21 Jahre jung, Wagner und Suggs 22, Anthony 23, Carter Jr. und Bitadze 24, Fultz 25.
Sicher, der Spielplan war bisher dankbar, die schweren Wochen stehen erst noch bevor. Dass dieses junge Team jedoch bereits die größten Titelanwärter wie Denver, Boston und Milwaukee geschlagen hat, zeigt, was in dieser Truppe steckt. 16 Siege aus den ersten 24 Partien sind ein exzellentes Polster für die harten Wintermonate - selbst wenn die Mosley-Truppe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht weiterhin zwei Drittel ihrer Partien gewinnen wird. Der Pfeil zeigt klar nach oben, die Orlando Magic sind in der Respektabilität angekommen. "Wir haben noch nichts erreicht", mahnte Moritz Wagner Anfang Dezember, nach dem neunten Sieg in Folge. "Es gibt noch viele Dinge, die wir verbessern und an denen wir weiter arbeiten müssen. Das machen gute Teams so. Wenn wir also etwas erreichen wollen, müssen wir genauso weitermachen."
Quelle: ntv.de