Verbogen, gefallen, gewonnen Reister verabschiedet seine große Liebe
05.10.2016, 13:49 Uhr
Julian Reister verabschiedet sich vom Profi-Tennis.
Julian Reister verbiegt sich für den Erfolg. Dabei droht er das Wichtigste in seinem Leben zu verlieren: die Liebe zu seinem Sport, die Liebe zum Tennis. Das will Reister nicht riskieren. Er verlässt die Tour - höchst emotional und äußerst ungewöhnlich.
Julian Reister beendet seine innigste Beziehung, um seine große Liebe zu retten. Das klingt vielleicht paradox, ist es aber ganz und gar nicht. Julian Reister ist Tennisspieler. Ein guter, kein herausragender. In der Weltrangliste hat er sich zu seiner besten Zeit bis auf Rang 83 geschmettert. Er hat Roger Federer in Roland Garros herausgefordert und auf dem heiligsten Rasen des Racketsports gespielt. Doch all das will er nun nicht mehr. Julian Reister hat sich vom Tennis entfernt, von seiner großen Liebe, die ihm wichtiger war, viel wichtiger als Mädchen, Alkohol und Parties. Nun sagt er "Tschüss", um das verlorene Gefühl zurückzuerlangen.
- Julian Reister wurde am 2. April 1986 in Hamburg geboren
- Seine erste Profisaison spielte der Rechtshänder im Jahr 2005.
- Seine Karrierebilanz im Einzel auf der ATP-Tour: 14 Siege, 34 Niederlagen.
- Beste Weltranglistenplatzierung: 83 (11. November 2013).
- Größter Erfolge: 3. Runde bei den French Open 2010 (Niederlage gegen Roger Federer).
Julian Reister packt seine weißen Schuhe auf die Seite, die Rackets lässt er liegen. Von der Tour rund um die Welt biegt er ab, in seinen kleinen, heimischen Wohlfühlkosmos. Julian Reister geht ohne Reue. Das sagt er sich, das sagt er seinen Fans. Und das sagt er dem Tennis. Mit einem bewegenden Brief, veröffentlicht auf der Plattform playery.de, verabschiedet er sich von seiner Karriere. Für sich erkannt, den richtigen Schritt zu gehen, ohne dabei alles richtig gemacht zu haben.
"Liebes Tennis, wir haben uns nicht oft gesehen in letzter Zeit. Daher hast du es bestimmt schon geahnt. Ich möchte mich von dir verabschieden. Nicht von dir als Sport, dafür bist du mir zu wichtig. Aber als Profisportler ist nun die Zeit gekommen, Tschüss zu sagen." In der Weltrangliste ist der 30-Jährige in die Bedeutungslosigkeit (631) abgestürzt, hat noch 44 Punkte zu verteidigen, damit fast 14.000 weniger als Superstar Novak Djokovic (14.040). Nennenswerte Ergebnisse hat er in diesem Jahr keine eingefahren.
Rasanter Aufstieg und tiefer Fall
Ganz anders als noch 2012 und 2013. Die Jahre, in denen sich für Reister alles änderte. Zum Guten, zum Schlechten. Der gebürtige Hamburger erlebt sein absolutes Karrierehoch. Er träumt davon, nochmal auf den großen Courts aufzuschlagen, dafür arbeitet er hart. Wechselt den Trainer, stellt die Ernährung um. Reister ist erfolgreich, steht im Ranking so weit wie noch nie. Zwei Jahre nach dem Duell mit seinem Vorbild Roger Federer auf der roten Asche von Paris (2010) und einem Jahr mit einer schweren Schulterverletzung wollte Reister noch einmal "alles rausholen, was geht." Seinen Kritikern endlich zeigen, dass sie im Unrecht sind.
Die Karriere Reisters wird begleitet von Zweifeln und Zweiflern an seiner Ernsthaftigkeit. "Sie warfen mir immer vor, nicht das Optimum aus meinem Talent zu machen, zu weich zu sein für den Tenniszirkus", schreibt er in seinem Abschiedsbrief. Er selbst stritt das ab, wusste aber, dass die Kritiker recht hatten. Also änderte er alles – und verlor. Nicht auf dem Court, dafür an Unbedarftheit und Lockerheit. Alles, was ihn ausgezeichnet hatte, blieb irgendwo liegen. Es kamen Ängste und Selbstzweifel. "Ich verlor die Freude am Spiel. Ich fühlte mich unwohl auf dem Platz. An Trennung dachte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich hielt es für eine Phase, die vorbeigeht."
Persönlichkeitsmerkmale unterdrückt
Aber sie ging nicht vorbei, sie blieb. Reister hat daraus gelernt. Er hat sich verbogen, dem Druck gebeugt, dem Geschäft angepasst. Doch er selbst war das nicht. Er lebte, wie er es nicht wollte. "Was oft vergessen wird, wenn über Sportler geurteilt wird, dass auch sie Menschen mit individueller Persönlichkeit sind. Ich brauche einen gewissen Müßiggang im Leben, ich kann nicht alles dem Sport unterordnen, ich bin lieber zu Hause als auf Reisen und ich bin vielleicht auch weicher als andere. Diese Persönlichkeitsmerkmale für den Erfolg zu unterdrücken, kann jedoch nur kurzfristig gelingen." Eine bittere, aber gleichsam heilsame Erkenntnis.
"Ich verlasse dich ohne Reue. Vielmehr lasse ich dich sehr dankbar zurück. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, einen Lebensabschnitt mit etwas zu verbringen, das ich schon immer geliebt habe. Daran wird auch die Zukunft nichts ändern." Julian Reister war ein guter Tennisspieler, kein herausragender. Seine Karriere ist vorbei. Sie wird kaum einem Tennisfan nachhaltig in Erinnerung bleiben. Sie war einfach nicht besonders eindrucksvoll. Ganz anders als sein Abgang.
Quelle: ntv.de, tno