Das beste WM-Spiel aller Zeiten? Selbst die US-Stars staunen über die wahnsinnigen Deutschen
09.09.2023, 06:15 Uhr
Die deutschen Basketballer stehen im WM-Finale. Dank einer fast perfekten Partie und starker Nerven in der Crunchtime gelingt der Sensationssieg gegen die eigentlich übermächtigen US-Boys. Das Team von Gordon Herbert kann sich nun mit Gold unsterblich machen.
Jubelschreie, Freudensprünge, geballte Fäuste in Manila: Deutschland gewinnt dank einer sensationellen Team-Leistung samt nahezu perfekt umgesetzten Gameplan die "vielleicht beste FIBA-Partie aller Zeiten" und sichert sich damit nicht nur den ersten Finaleinzug, sondern auch die erste Gold- oder Silber-Medaille bei einer Basketball-WM. In einem Spiel für die Geschichtsbücher - noch nie wurden in einem Semifinale mehr Punkte erzielt - behält der Außenseiter gegen den großen Favoriten USA eiskalt die Nerven und kann am Sonntag im Endspiel gegen Serbien (14.40 Uhr, ZDF, Magentasport und im ntv.de-Liveticker) eine Heldenreise krönen.
"Es ist krass, wenn man begreift, was das für den deutschen Basketball bedeutet. Ich bin überwältigt", ringt Moritz Wagner auch Minuten nach Schlusspfiff um Fassung. "Wir sind alle sehr, sehr dankbar, Teil dieser Welle zu sein. Das überwiegt gerade: Dankbarkeit, dass man Teil dieser Gruppe sein darf, Teil dieser Erfahrung, und das genießen wir." Zum ersten Mal in der WM-Geschichte erzielen drei deutsche Spieler mindestens 20 Punkte in derselben Partie: Andreas Obst (24), Franz Wagner (22) und Daniel Theis (21), unterstützt von Dennis Schröder (17), Moritz Wagner (10) und Johannes Thiemann (10), ebenfalls im zweistelligen Scoring-Bereich.
Es ist eine wahre Glanzleistung der Truppe von Gordon Herbert, der in der anschließenden Pressekonferenz das gesamte Lob an seine Mannschaft weiterreicht: "Wir haben zusammengehalten, wurden tougher, als es schwerer wurde. Wir hatten einen Dreijahresplan, das hier ist Jahr zwei. Alle hier haben sich verpflichtet und kümmern sich vorbildlich um den anderen. Sie unterstützen sich gegenseitig und kämpfen füreinander. Eine ganz spezielle Gruppe von besonderen Spielern, aber noch besseren Menschen."
Bestes WM-Spiel aller Zeiten?
Endlich starten Herberts Mannen einmal konzentriert und effizient in eine Partie. Mit 33 Punkten im Auftaktviertel gelingen den Deutschen zum vierten Mal in der WM-Geschichte 30 oder mehr Punkte im ersten Viertel - und das erste Mal seit der WM 2006 in Japan. Bereits nach sechs Minuten stehen 25 Punkte auf dem Konto - mehr als in den vergangenen zwei Partien im ersten Viertel zusammengenommen. Im zweiten Abschnitt wechselt die Führung immer wieder hin und her, die USA führen zur Pause denkbar knapp, 59:60.
Nach dem Seitenwechsel powern die Deutschen dann mit Volltempo aus der Kabine. Es sollen zehn fast perfekte Minuten werden. Der an beiden Seiten des Spielfelds überragende Theis erzielt sechs schnelle Punkte und stellt bereits hier mit 19 Zählern in seinem zwölften WM-Spiel einen persönlichen Rekord auf. Auch Franz Wagner knackt mit seinem dritten Dreier und 17 Punkten früh sein Career High bei einer WM. Andy Obst avanciert mit 10 seiner 24 Zähler in dieser Phase zum Matchwinner. "Andy ist für mich einer der besten Shooter der Welt", sagt der deutsche Coach über seinen Scharfschützen. "Er kann aber mehr als nur werfen. Er kann selbst zum Korb ziehen, kreieren und macht Platz für Dennis und Franz. Und er kann auf hohem Niveau verteidigen. Seine Entwicklung ist unglaublich. Er war einfach großartig heute."
Deutschland überrollt die US-Defensive mit 35 Punkten bei 68 Prozent Trefferquote aus dem Feld und 50 Prozent von der Dreierlinie, bei nur einem einzigen Ballverlust. Es ist die Sorte kontrollierten Basketballs, die den Amerikanern den Zahn zieht. Unter den Augen von US-Basketball-Ikone Carmelo Anthony erspielen sich die Deutschen eine 94:84 Führung. "Wir haben einfach dran geglaubt", sagt der Teamälteste, Niels Giffey. "Wir wollten das Tempo niedrig halten, im Halfcourt spielen, die Rebounds kontrollieren, sie nicht ins Laufen kommen lassen. Und wir haben eben auch ein paar Killer, die 120 aufs Scoreboard bringen können."
Dann folgt der "Thrilla in Manila"
Im Schlussviertel geht es drunter und drüber. Der Favorit wittert, dass sich die Tür langsam schließt, und dreht die Schlagzahl hoch. Nach und nach kämpft sich das Team von Steve Kerr wieder heran, aufgepeitscht von frenetischen "Defense, Defense!"-Rufen der Fans in Manila, wird so aus einem hohen Rückstand doch noch einen Crunchtime-Thriller. Neun Punkte in Folge bringen die Amerikaner bis auf 106:103 heran. Was für ein Drama, was für ein Zitterspiel. Maximale Intensität auf jedem Zentimeter des Courts, unfassbar.
Deutschland hält dagegen. Physisch, aber vor allem mental. Immer wieder gehen die fünf Akteure auf dem Platz ins Huddle, diskutieren das Geschehen, geben sich gegenseitig Anweisungen, feuern sich an. Der Zusammenhalt und Fokus sind auf dem absoluten Turnierhöhepunkt. Auch die Energie von der Bank ist überragend. Überall dominiert der Wahnsinn, im besten Sinne.
"Es ist einfach, in solchen Momenten den Kopf hängenzulassen und in verschiedene Richtungen zu driften", gibt Franz Wagner auf dem Podium nach der Partie Einblick in die deutsche Psyche. "Aber wir waren in der Situation ja schon ein paar Mal, auch während der Vorbereitung in Abu Dhabi. Wir wollten einfach zusammenbleiben und jeden Ballbesitz für sich nehmen. Am Ende haben wir dann ein paar toughe Plays gemacht. Klar gehört auch immer ein bisschen Glück dazu, aber das hat man sich in so einem Spiel auch ein bisschen verdient."
37 Sekunden Basketball für die Ewigkeit
Als Austin Reaves einen spektakulären Jumper gegen Schröder und zwei Würfe von der Linie versenkt, ist die Führung auf nur noch einen Punkt zusammengeschmolzen. Bei 1:31 Minuten verbleibender Restspielzeit ist das Momentum vollends auf Seiten der Amerikaner angelangt. Deutschland wackelt, aber Deutschland beweist Nerven, Deutschland bekommt einen Einwurf unter dem amerikanischen Korb.
Was folgt, sind die größten 37 Sekunden in der WM-Geschichte des deutschen Basketballs. Ein Einwurf-Spielzug wie aus dem Bilderbuch, Obst kommt über die volle Spielfeldbreite gesprintet, empfängt den Ball, lässt Gegner Tyrese Haliburton ins Leere laufen und trifft seinen vierten Dreier der Partie. 111:107 Deutschland. Auf der Gegenseite räumt Isaac Bonga Mikal Bridges mit einem Monsterblock ab - bei weniger als einer Minute auf der Uhr - ehe Schröder einen Mitteldistanzwurf aus dem Dribbling gegen Austin Reaves einnetzt, gegen seinen ehemaligen Mannschaftskollegen bei den Los Angeles Lakers.
Der verkürzt dann per Dunking sogar noch einmal auf 113:109, aber Anthony Edwards schmeißt bei nur noch 27 Sekunden auf der Uhr den Ball ins Aus. Beim letzten Ballbesitz brauchen die Amis dann zu lange, um zu punkten. Deutschland rettet die knappe Führung über die Zeit und ist im siebten Basketball-Himmel. "Glückwunsch an Deutschland und nichts als Respekt", zieht Jalen Brunson später den Hut. "Sie haben fantastisch gespielt, von Anfang bis Ende. Wann immer wir einen Run hatten, haben sie geantwortet. Sie haben es geschafft, sich an ihren Gameplan zu halten und das Spiel zu gewinnen."
"Nicht mehr 1992"
Starcoach Steve Kerrs Gesicht sagt alles. Kurz nachdem er nachdenklich, niedergeschlagen, schmerzverzerrt vom Parkett der Mall of Asia Arena in die Umkleide geschritten ist, den hoch bezahlten und hochklassigen NBA-Spieler- und Assistenten-Stab im Schlepptau, muss er die Niederlage vor versammelter Journalisten-Schar bereits en détail analysieren. Wie es sein könne, dass die USA, der haushohe Favorit, noch nicht einmal das Finale erreichen konnten? "Das ist hier längst nicht mehr 1992", erklärt der 57-Jährige mit Blick auf die Olympischen Spiele in Barcelona, als das amerikanische Dream-Team dominierte und Basketball international salonfähig machte.
"Deutschland hat viele große, kräftige Typen. Sie haben unsere Defensive mächtig unter Druck gesetzt und uns an die Wand gespielt. Wir waren einfach nicht physisch gegen sie. Schröder verdient viel Respekt. Er ist nur schwer in den Griff zu kriegen, zieht mit seinem Dribbling und seinen Drives immer wieder in die Zone und setzt deine Defense unter Druck. Und wir haben Fehler gemacht. Beim ersten Ballbesitz müssen wir ausboxen. Das muss direkt von Beginn an sitzen. So trifft Obst einen Dreier nach dem Offensivrebound und kommt direkt in den Fluss. Er war der Schlüssel heute."
Und während die Amis verpassten Gelegenheiten nachtrauern - Michael Bridges etwa sagt: "Wenn wir dieses Spiel noch einmal spielen könnten, würden wir mehr zusammenspielen. So wie Deutschland, die haben 40 Minuten zusammengehalten" -, kommen die deutschen Protagonisten aus dem Lachen, Feiern und Erzählen gar nicht mehr raus. Auf die abschließende Frage von ntv.de, ob jetzt vielleicht endlich ein bisschen Hype zu Hause entstehen kann, antwortet Moritz Wagner gewohnt geradlinig: "Du meinst, dass jetzt vielleicht mal was im TV ausgestrahlt wird?" Als er erfährt, dass das große Finale am Sonntag tatsächlich frei empfangbar sein wird, läuft sein Bruder gerade an ihm vorbei in Richtung Kabine. "Wow, sieh mal einer an. Da freut man sich doch, wenn es zumindest ein bisschen Anerkennung gibt. Das bedeutet einem schon viel als Sportler. Hey Franz, das läuft im Fernsehen am Sonntag, yeeeaah...!"
Quelle: ntv.de