Historisches Stanley-Cup-Finale Spanische Grippe, ein Toter, kein Meister
29.04.2020, 17:31 Uhr
Die Geschichte der 1919er-Finalserie um den Stanley Cup endet tragisch.
(Foto: REUTERS)
Der Stanley Cup gilt als begehrteste Eishockey-Trophäe der Welt. Seit 1893 wird er vergeben. Selbst während der Weltkriege wurde um ihn gespielt. Nur zweimal gab es keinen Champion: 2004/05, als die Saison wegen eines Arbeitskampfes ausfiel - und 1919. Damals sorgte die Spanische Grippe für ein Novum.
Joseph Henry Hall ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Besonderheit auf Nordamerikas Eisflächen. Zum einen ist er in England geboren und war im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach Brandon, in die kanadische Provinz Manitoba gezogen. Zum anderen fällt dieser Joe Hall durch seine Spielweise auf. Er ist furchtlos, unerschütterlich, schont weder sich, noch den Gegner und gilt als erster "Enforcer" der Liga. Also als jemand, der sich schon mal prügelt, um so seine Mitspieler zu schützen und die Gegner daran zu erinnern, sich doch bitte schön an die Spielregeln zu halten. Die Tageszeitung "Boston Globe" bezeichnete Hall einst als "Schrecken auf dem Eis". Sein Spitzname ist jedoch ein anderer gewesen: "Bad Joe" - Hall hat dies immer als Kompliment empfunden.
Hall stirbt an Lungenentzündung - verursacht durch Grippe
Hall wird nicht nur mit robuster Spielweise und Raufeinlagen verbunden, sondern vor allem mit den Finalpartien um den Stanley Cup 1919. Die Serie zwischen den Seattle Metropolitans und den Montreal Canadiens ist bis heute ein besonderes Kapitel in der an besonderen Kapiteln wahrlich nicht armen Geschichte von Nordamerikas Profi-Eishockey. Sie ist die Einzige, die abgebrochen werden musste. Die Einzige ohne Meister. Und eine, mit einem Toten: Joe Hall. Der Verteidiger der Montreal Canadiens stirbt am 5. April 1919 in Seattle an einer Lungenentzündung - hervorgerufen durch die Spanische Grippe.
Rund 500 Millionen Menschen - das entspricht zu jener Zeit einem Viertel der Weltbevölkerung - erkranken an der Influenza. Die Zahl der Toten schwankt zwischen 17 und 50 Millionen. Einer von ihnen ist im Herbst der 32-jährige Hamby Shore, ein Eishockeyspieler der Ottawa Senators. Es sind unter anderem aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrende Soldaten, die die "Spanish flu" rund um den Globus verbreiten - und sie unter anderem auch bis nach Seattle bringen. Doch das Schlimmste, so ist dort zu Jahresbeginn 1919 irrtümlicherweise die Annahme, sei nun vorbei. Denn der Gesundheitsbeauftragte für Seattle, Dr. J.S. McBride, verkündet Ende Januar 1919, die Epidemie sei überstanden. Es würde nur noch Einzelfälle geben. Nach monatelanger Quarantäne kann also endlich allmählich der Alltag wieder einkehren - und Eishockeyspiele sind eine willkommene Ablenkung.
Fünf Tage Zugreise bis nach Seattle
Der Sport ist in Nordamerika vor 101 Jahren noch ein anderer. Niemand kann vom Eishockey leben, so dass die Spieler den Großteil des Jahres ganz gewöhnliche Berufe ausüben. Joe Hall verkauft Tabakwaren. Es gibt zwei Ligen mit je drei Mannschaften. Im Osten ist es die National Hockey League (NHL) mit den Montreal Canadiens, Ottawa Senators und Toronto Arenas. Im Westen spielen die Vancouver Millionaires, Victoria Aristocrats und Seattle Metropolitans in der Pacific Coast Hockey Association (PCHA). Die Meister beider Ligen ermitteln den Stanley Cup-Sieger. Im März 1919 sind dies Seattle und Montreal. Da es mit dem Zug fünf Tage von Montreal bis zur Westküste nach Seattle dauert, werden alle Spiele der Finalserie in der Seattle Ice Arena ausgetragen.
Die Kader sind damals noch weitaus kleiner als heute. Montreal hat neun Spieler zur Verfügung, Seattle gar nur acht. Der Star der Mets, Bernie Morris, der 1917 noch 14 von Seattles 23 Toren in den gewonnenen Endspielen gegen Montreal geschossen hatte, ist vor Beginn der Playoffs verhaftet worden. Obwohl Kanadier, hatte er sich für den US-Militärdienst registriert - sich jedoch geweigert, zu dienen und dies mit seiner kanadischen Staatsbürgerschaft begründet. Noch aus dem Gefängnis lässt er seinem Team die Nachricht zukommen, dass es "gewinnen" solle bis er wieder freikäme und zur Mannschaft zurückkehren könne.
Hall bricht auf der Bank zusammen
Nach drei Spielen führt Seattle mit 2:1 und braucht somit nur noch einen Sieg, um, wie schon zwei Jahre zuvor, gegen Montreal den Stanley Cup zu gewinnen. Im vierten Finale fallen am 26. März trotz zwei mal zehn Minuten Verlängerung keine Tore. Drei Tage später führt Seattle zu Beginn des Schlussdrittels 3:0. Joe Hall ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf dem Eis. Der mit 36 Jahren älteste Spieler dieser Finalserie war bereits im ersten Drittel auf der Bank entkräftet zusammengebrochen und sofort in ein Krankenhaus gebracht worden. Als Ehefrau Mary davon erfährt, macht sie sich umgehend mit den gemeinsamen drei Kindern auf den Weg mit dem Zug von Winnipeg ins rund 2100 Kilometer entfernte Seattle.
Auch ohne Hall gewinnt Montreal Spiel fünf noch 4:3 nach Verlängerung. Die Spieler beider Teams schleppen sich völlig abgekämpft in ihre Kabinen. Nach zehn Tagen und fünf Partien gibt es immer noch keinen Meister. Der soll am 1. April 1919 ermittelt werden. In einem sechsten Spiel. Doch zu dieser Partie kommt es nicht mehr. "Die Spieler sind in schlechter Verfassung für Spiel 6", lautete bereits am 31. März 1919 die Überschrift im "Seattle Post-Intelligencer".
Montreal gibt auf, Seattle lehnt Titel ab
Hall und vier seiner Teamkollegen liegen am Tag vor dem geplanten sechsten Duell mit hohem Fieber im Hotelbett oder im Krankenhaus. Auch Montreals Manager George Kennedy ist grippekrank. Er hat kein Team mehr und gibt notgedrungen den Kampf um den Stanley Cup auf. Seattle ist Meister. Doch dessen Coach, Pete Muldoon, lehnt ab. Wenn schon Stanley Cup-Champion, dann bitte auf sportliche Weise - aber nicht so. Wenige Stunden vor dem geplanten sechsten Match wird das Eis in der Seattle Ice Arena abgetaut. Viele Jahre hat es auf dem Stanley Cup keinen Hinweis auf diese dramatische Finalserie gegeben. Erst 1948 sind unter dem Jahr 1919 die Montreal Canadiens und die Seattle Metropolitans auf der Trophäe eingraviert worden - allerdings mit dem Hinweis: "Series not completed" - Serie nicht beendet.
Quelle: ntv.de