Von wegen "Gefängnissport" USA starten mit TV-Ninja aus der 5. Liga und deutscher Hilfe in besondere WM-Mission
15.01.2025, 07:34 Uhr
Das US-Team erlebte 2023 eine historische Weltmeisterschaft.
(Foto: IMAGO/TT)
Die USA sind die mächtigste Sportnation der Welt, ihre Profiligen sind viele Milliarden schwere Spektakel. Doch wenn man in Übersee "Handball" gehört, denken die meisten an Gefängnisinsassen. Das US-Nationalteam ist trotzdem bei der WM dabei, vor zwei Jahren schrieb man sogar Geschichte. Ein Deutscher ist dafür maßgeblich mitverantwortlich.
Erinnern Sie sich an Gauthier Mvumbi? Der Handball-Koloss aus dem Kongo schrieb 2021 bei der Weltmeisterschaft seine große Geschichte. Mvumbi, der damals in der vierten französischen Liga spielte, warf Tor um Tor, seine Abschlussquoten waren bisweilen Weltklasse. Mit sicherlich 150 Kilogramm unter einem gewaltigen und doch bei jeder Angriffsaktion hochrutschendem Trikot erarbeitete sich der Kreisläufer den Respekt der Gegner und die Bewunderung von Fans aus aller Welt. Selbst Basketball-Idol Shaquille O'Neal bekam etwas von dem Hype um Mvumbi mit, den man aufgrund seiner schieren Masse auch "Shaq des Handballs" nannte.
"Hey, man sagt, dass du der Shaq des Handballs bist. Was geht?", schrieb der Basketball- dem Handball-Koloss. "Ein Traum wird wahr", kommentierte Mvumbi. "Ich glaube es nicht. Mein Idol Shaq, mein Star. Ich verstehe noch nicht ganz, was gerade passiert, aber ich sage euch: Lebe deinen Traum und kämpfe für das, was du bist." Und das war vielleicht der größte Aufreger am ganzen Alarm um Mvumbi, der die WM 2021 mit der Demokratischen Republik Kongo schließlich auf Platz 28 abschloss: Dass seine Geschichte überhaupt in die USA überschwappte. Denn in den USA interessiert sich niemand für Handball. Und das ist ein Problem für den Handball. Dazu später mehr.
Von wegen "Ball an die Wand"
"Viele Amerikaner wissen gar nicht, was Handball ist. Für die ist Handball der Sport, den die Gefängnisinsassen betreiben, indem sie einen kleinen Ball mit der flachen Hand gegen die Wand schlagen", sagt Andreas Hertelt im Gespräch mit ntv.de. "In Amerika heißt unser Handball 'Team Handball'." Hertelt, in den 80er- und 90er-Jahren Bundesliga-Profi und mit TuRU Düsseldorf Europapokalsieger, ist Teammanager der US-Boys und sammelte mit Nationaltrainer Robert Hedin, einem Schweden, einst in der ganzen Welt Sportler ein, die für die US-Nationalmannschaft spielen können. Offensichtliche Kandidaten haben sich nicht aufgedrängt: Keiner der Kandidaten spielte in der ersten Liga einer Topnation. Manche spielten überhaupt nicht in einer Liga.
Der populärste Spieler des Teams ist Gary Hines - und die relative Berühmtheit des 40-Jährigen hat nichts mit Handball zu tun. Hines vertritt die USA in Oslo zum zweiten Mal bei einer Weltmeisterschaft. "Wir haben uns Respekt und neue Fans verdient", jubelte der Rückraumspieler 2023. Bei der deutlichen Niederlage gegen die einstige Großmacht Kroatien traf Hines damals sechsmal teils spektakulär- und wurde zum "Man of the Match" gekürt. Eine nette Geste. "Wir haben Geschichte geschrieben, indem wir unser erstes WM-Spiel gewonnen haben. Am Ende haben wir zwei Spiele gewonnen. Das waren zwei mehr als erwartet." Das 28:27 gegen Marokko sorgte für den Einzug in die Hauptrunde, der Sieg gegen Belgien (24:22) führte die US-Boys auf Platz 20 in der Endabrechnung - ein gewaltiger Erfolg.
Was die Geschichte noch ein bisschen größer macht: Linkshänder Hines spielt im Alltag bei der SG Langenfeld - in der Oberliga Nordrhein. Aus der fünften Liga auf die größte Bühne des Welt-Handballs. Es ist eine ziemlich amerikanische Geschichte. Und dann ist der Modellathlet ja auch noch ein echter TV-Held: 2016 kämpfte sich Hines beim RTL-Erfolgsformat "Ninja Warrior" überaus erfolgreich durch den Parcours, am Ende der Staffel landete er auf dem zweiten Platz. Überhaupt: Der Handballer war in allen neun Staffeln der Show dabei.
"Gary ist ein bisschen das Gesicht des Teams, aber mit über 40 Jahren ist er bei weitem kein Leistungsträger mehr, kann er auch nicht sein", sagt Hertelt zum einzigen Spieler in seinem Team, der einem größeren deutschen Publikum bekannt sein könnte - wenn auch nicht als Handballer. Und ergänzt schmunzelnd: "Wenn wir einen Parcours durchführen würden, wäre er immer vorne. Aber es geht um Handball und da kann Gary auf dem hohen Niveau nicht mehr mithalten. Wir treten ihm da nicht zu nahe. Er weiß das selbst."
"Es gibt kein Geld"
Dass einer wie Hines bei einer Weltmeisterschaft aufläuft, ist eine fantastische Leistung und eine grandiose Geschichte. Aber auch Ausweis dessen, wie kompliziert die Mission des US-Teams ist. "In den USA gibt es keine Strukturen. Es gibt keine Handballliga. Handball ist nicht verankert im Schulsystem", berichtet Hertelt. Talentierte Sportler spielen Basketball, Football oder Baseball, Sportarten eben, mit denen man Geld verdienen kann. "Von 100 18-, 19-jährigen Topsportlern bekommt vielleicht einer einen Vertrag. Die anderen 99 sind trotzdem tolle Sportler und physisch hervorragend ausgebildet, aber die haben eben keine Handballerfahrung. Und jemanden mal eben vom guten Footballer zu einem starken Handballer zu entwickeln, das geht höchstens auf einzelnen Positionen", sagt der ehemalige Linksaußen Hertelt.
Nationalspieler Drew Donlin - so erzählt es Hertelt - "hatte bei der Air Force wirklich gutes Grundlagentraining, was die Physis angeht." Im Rahmen einer Kooperation mit dem spanischen Erstligisten Ademar Leon habe man ihn zu einem "vernünftigen Kreisläufer entwickelt." Heute spielt der 32-Jährige als einziger Spieler aus dem WM-Kader in der Heimat.
Bei der Klub-WM 2024 spielte mit den California Eagles der US-Meister mit - und der wurde zweimal mächtig vermöbelt. Gegen den saudi-arabischen Khaleej Club gab es ein 25:48, gegen den deutschen Meister SC Magdeburg gingen die US-Boys sogar mit 21:57 unter. Kein Wunder: "Es gibt kein Geld. Es gibt keine Schiedsrichter, es gibt keine Technik, es gibt keine Hallen", sagt Hertelt. "Wir haben schon Spieler gesehen, die auf aufgepumpte Tore geworfen haben. Man versucht sich da mit einfachsten Mitteln zu behelfen."
Der kuriose Weg des US-Teams auf die Landkarte des Welthandballs könnte aus europäischer Warte eine Geschichte sein, die zum Staunen und - angesichts der Gigantomanie, der die viele Milliarden schwere US-Sportindustrie umweht - ein bisschen auch zum Schmunzeln einlädt. Doch für den Handball ist die Mission eine verdammt ernste Angelegenheit.
"Super-GAU für den Handball"
Denn beim Weltverband hat man ein großes Interesse daran, dass die US-Boys bei der WM performen und gute Geschichten schreiben. Vor allem mit Blick auf die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles. Seit jeher ist Handball eine überaus europäische Veranstaltung, noch nie kam ein Weltmeister von einem anderen Kontinent. In den großen Sportmärkten außerhalb Europas - USA, Indien, China - bekommt der Handball nahezu keinen Fuß in die Tür.
Für den wirtschaftlich unerhört wichtigen Status als olympische Sportart ist das ein echtes Problem, beim IOC mögen sie es international. "Visa, Intel, Coca-Cola ... Die meisten der wichtigsten IOC-Sponsoren sind große amerikanische Firmen", erklärt Hertelt gegenüber ntv.de. "Die interessiert der hohe Stellenwert des Sports in Europa überhaupt nicht, wenn er nicht auch in den USA bekannt ist. Wenn die Druck auf das IOC machen... Das wäre der Super-GAU für den Handball."
Bei den Olympischen Spielen geht es um viel Geld und viel, viel Aufmerksamkeit für die Verbände, die im Schatten des alles absorbierenden Fußballs um jeden Lichtstrahl kämpfen. Der Verlust des Olympischen Status ist für die großen europäischen Verbände ein Katastrophenszenario. Ein wenig kämpfen Hedin, Hertelt und ihr Team eben auch für die großen Kollegen, die um die Titel spielen.
Die Gefahr ist natürlich bekannt, das Forum Club Handball, in dem große Vereine organisiert sind, hat ein Förderprogramm für US-Spieler aufgelegt, die in Europa zu Handballern ausgebildet werden sollen. Der mächtige IHF-Präsident Hassan Moustafa hatte einen Sonderbeauftragten mit dem Projekt USA betraut, es gibt auch finanzielle und logistische Unterstützung.
Es ist alles nicht so einfach: "Wie reagiert der amerikanische Verband auf diese ausländische Hilfe aus Europa zum Beispiel? Da gibt es auch nationale Befindlichkeiten", sagt Hertelt, der seinen Teil zur Entwicklung des Handballs aus Krefeld beiträgt. "Das Zweite ist auch, wie das USOC, das in den USA extrem starke Nationale Olympische Komitee, sich dort einbringt. Eine Entwicklung des Handballsports, wie wir ihn aus Europa kennen, wird es dort so schnell nicht geben können." Der Weltverband subventionierte auch die Stelle des CEO von US Handball, doch "in den fünf, sechs Jahren, in denen ich hier bin, gibt es jetzt schon den vierten CEO. Das ist das amerikanische System, dass man dort relativ schnell auch seinen Posten los ist, aber auch schnell wieder einen neuen bekommen kann. Und das ist natürlich einer Entwicklung eines Sports abträglich."
Spieler bezahlen Anreise
Der Job, den Hertelt und Hedin leisten, ist eine Sisyphusarbeit: "Unser Verband besteht aus zwei Personen. Das kann man sich gar nicht vorstellen", sagt der Deutsche in Diensten des US-Sports. "Es gibt einen CEO, der wird bezahlt vom USOC. Und dann gibt es noch einen Angestellten, der so ein bisschen Werbung macht. Das ist alles." Um den Rest kümmern sich die beiden Europäer, "das fängt an bei der Auswahl des Hotels, bei Verhandlungen über die Zimmerpreise und geht weiter über Bestellung von Klamotten und Fragen wie: Wer ist Beauftragter der IHF für Doping? Wer kümmert sich um Medienanfragen? Das ist eine Zwei-Mann-Show, die wir hier abziehen."
Auf der Webseite des Verbands ist unter den Kontaktdaten die Mailadresse des Nationaltrainers hinterlegt. Ihre Anreise zu den vier von Hertelt und Hedin organisierten Trainingslagern, die das US-Team im Jahr in Europa abhält, bezahlen die Nationalspieler selbst - "wir haben aber auch schon mal bezuschusst, wenn ein bisschen mehr Geld in der Kasse war."
Auch der US-Handball ist zumindest vorerst weiterhin eine europäische Angelegenheit: 17 der 18 WM-Fahrer spielen in Europa, Topklubs greifen den US-Boys bei der Ausbildung einzelner Spieler unter die Arme. So hat man inzwischen immerhin einen Pool von 30, 40 Spielern, aus denen man die Nationalmannschaft zusammenbauen kann, sagt Hertelt - aber "da zähle ich schon viele dazu." Realistisch seien es wohl 20 bis 25 auf höherem Niveau wettbewerbsfähige Handballspieler. "Und die muss man bei Laune halten, die muss man fördern, die muss man auch weiter pushen."
Sich eine schlagkräftige Nationalmannschaft für ein Großevent zusammenzukaufen, wie es WM-Gastgeber Katar 2015 mit Spaniern, Franzosen, Kroaten und Kubanern tat, geben die Regularien nicht mehr her. Die wichtigsten Spieler sind Europäer mit US-Pass: Die Torhüter Pal Merkovszky und Douglas Otterström, Regisseur Ian Hüter, der für den ASV Hamm-Westfalen in der 2. Bundesliga spielt oder Aboubakar Fofana vom französischen Zweitligisten Villeurbanne. Der "französische Amerikaner" Fofana warf im vergangenen Jahr gegen eine französische 1b-Nationalmannschaft zwölf Tore.
"Wir haben es geschafft, über die letzten Jahre einen sehr großen Zusammenhalt herzustellen", sagt Hertelt über den US-Kader. Auch Hertelt ist natürlich gerne Teil dieser Gemeinschaft, trotz oder gerade wegen der strukturellen Herausforderungen -."weil die Jungs alle mitziehen und weil es so viel Spaß macht, macht man diesen Job auch gerne. Das ist wirklich spannend." Im "wahren Leben" war der Rheinländer eigentlich nach seinem Karriereende komplett raus aus dem Handball und drin in der beruflichen Selbstständigkeit war. Bis der Anruf von seinem ehemaligen Mitspieler Hedin kam.
Nun dürfen sie bei der WM alle ihren Traum leben, sich mit den Besten der Welt messen. Das Ziel, das Hertelt und Hedin für die Mission Weltmeisterschaft ausgeben, ist erstmal, "uns vernünftig zu verkaufen". Dass das auch in einer komplizierten Gruppe mit Co-Gastgeber und Medaillenkandidat Norwegen, den aufstrebenden Portugiesen und Brasilien gelingt, daran hat der Deutsche keinen Zweifel. "Wir haben ja Spieler, die ihr Geld mit Handball verdienen. Das sind keine kleinen Jungs, die nicht Handball spielen können, sondern die sind zum Teil in der ersten spanischen Liga unterwegs, die spielen in Deutschland in der zweiten Liga, die sind auch in Skandinavien unterwegs. Das sind gute Spieler."
"Das ist ja utopisch"
Während es also "zuhause" in den USA schleppend läuft, geht die Entwicklung der Nationalmannschaft - wenn auch auf einem aus europäischer Sicht niedrigem Niveau - in die richtige Richtung. 2022 gewann man die Panamerikanische Meisterschaft, für die WM 2023 gelang die sportliche Qualifikation - mit zwei Siegen über Kuba. "Wir haben uns sicherlich eine größere Aufmerksamkeit, auch Respekt bei einigen Nationen verschafft", resümiert Hertelt. "Im Mai letzten Jahres haben uns die Franzosen zum Testspiel eingeladen, wo wir uns sehr gut verkauft haben. Wir wollen uns mit der bestehenden Mannschaft, die fast identisch ist mit der Mannschaft von vor zwei Jahren, weiterentwickeln. Noch besser werden, noch stabiler werden." Jugend- und Juniorenteams schafften zuletzt ebenfalls die Qualifikation für Weltmeisterschaften. "Aber wie gesagt, das ist derzeit nur mit handballerisch in Europa sozialisierten Jugendlichen zu erreichen."
Die US-Boys starten ihre komplizierte Mission am Mittwoch gegen Portugal, dann bittet zwei Tage später Co-Gastgeber Norwegen in Oslo zum Tanz. "Wir wollen uns möglichst gut verkaufen. Wenn alles optimal läuft, wenn wir uns in den ersten beiden Spielen gegen Portugal und Norwegen ein bisschen Sicherheit holen und verletzungsfrei bleiben, haben wir im Gruppenfinale eine vielleicht zehnprozentige Siegchance gegen Brasilien", sagt Hertelt vor dem Start in die Gruppenphase. "Das sind alles Gegner, die sind natürlich mindestens eine Nummer zu groß für uns. Man muss einfach realistisch bleiben. Wir haben zwar in den letzten Jahren eine vernünftige Entwicklung genommen, aber wir sind noch weit davon entfernt, in diesem Konzert mitspielen zu können."
Realistisch betrachtet dürfte es für die USA nach der Vorrunde im President's Cup weitergehen, wo die jeweils Letztplatzierten der acht Gruppen die Plätze 25 bis 32 ausspielen. "Für uns ist es toll, wenn wir diese Spiele haben. Wie gesagt, wir wollen uns ja verbessern", sagt Hertelt. "Wir haben mehrere 18-, 19-Jährige dabei, für die ist das ein Riesenerlebnis und für deren persönliche Entwicklung natürlich auch eine tolle Sache." Es sind kleine Schritte auf einer großen Mission. Und ein bis zwei Spiele wolle man doch gerne wieder gewinnen, auch wenn das schwer genug sei.
Für die Weltmeisterschaften 2025 und 2027 hat die IHF die USA mit Wildcards ausgestattet. "Am Ende des Horizonts steht natürlich dann Olympia 2028 und Los Angeles, und da möchte man eine vernünftige Rolle spielen. Nur daran zu denken, dass man dort im Konzert der Allergrößten eine Medaillenchance hat. Aber wir wollen eben versuchen, Spaß an so einem Turnier zu haben. Und Spaß hat man dann, wenn man nicht abgeschlachtet wird, wenn man vernünftig mitspielen kann."
Gauthier Mvumbi übrigens hat seine eigene Geschichte mit den USA: Ab 2021 stellte er sich in den Dienst des Detroit Handball Club. Der ernannte den Kreisläufer am 14. Mai - einen Tag vor Mvumbis 27. Geburtstag - zum Klubbotschafter. Eine Ehre, die dem Amateurspieler viel bedeutet. "Ich freue mich sehr, dass ich mit dem Detroit Handball Club zusammenarbeiten werde, um die Entwicklung des Handballsports in den Vereinigten Staaten zu unterstützen", zeigte er sich begeistert. Auch der echte Shaq wolle sich im Handball engagieren, hieß es. Gewaltig ist der Nachhall der großen Ankündigungen nicht, in diesen Tagen müssen es noch die Jungs richten, die schon 2023 ihre eigene Geschichte geschrieben haben.
Quelle: ntv.de