
Andreas Wolff, außerirdisch.
(Foto: picture alliance / Laci Perenyi)
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft macht das Düsseldorfer Fußballstadion zu einer mythischen Stätte des deutschen Handballs: Das Weltrekordspiel zum EM-Auftakt ist kein Blendwerk, sondern ein Spektakel. Und vielfach wertvoll.
Sie hatten mächtig aufgefahren im Düsseldorfer Fußballstadion: 250 Lautsprecher, 50 Verstärker, 500 bewegliche Lampen und 30 Lasersysteme wurden in der gewaltigen Arena verbaut, 53.586 Zuschauer machten die Eröffnung der deutschen Handball-EM zu einem Spektakel. Weltrekord, nie zuvor kamen so viele Menschen zu einem Handballspiel. Eine Lasershow brachte die Rekordmasse auf Betriebstemperatur, viele Menschen tanzten auf dem Spielfeld. Party, Pathos, große Gefühle. Der Rahmen des Spiels der deutschen Handball-Nationalmannschaft sprengte die Dimensionen, in denen der Handball eigentlich zu Hause ist. Die Spieler hielten Schritt, schlugen die Schweiz in einem "alles entscheidenden Spiel", wie Handball-Legende Stefan Kretzschmar es vorher genannt hatte, 27:14 (13:8).
"Das war unglaublich und gewaltig für jeden von uns. Ich bin super dankbar und glücklich, dabei gewesen zu sein. Es war ein besonderes Erlebnis. Vor allem das Einlaufen war gigantisch. Da hatte ich schon Gänsehaut und musste lächeln", berichtete Spielmacher Juri Knorr. Kapitän Johannes Golla sprach von einem "einmaligen Erlebnis für uns in unserer Handballkarriere. Auf der Platte kam es von allen Seiten. Es war so laut. Die Euphorie ist jetzt da." Und Rückraumspieler Julian Köster ist sich sicher, "dass die Deutschen Bock haben auf das Turnier und uns nach vorn peitschen werden." Das Spektakel von Düsseldorf sei "das einzigartigste Spiel meiner Karriere" gewesen. "Es war einfach phänomenal."
Wolff wie "von einem anderen Stern"
Das Drumherum lässt sich bis auf den letzten Laserblitz durchchoreografieren. Der sportliche Erfolg ist nicht planbar und doch entscheidet er allein, ob ein großer Abend nicht bloßes Blendwerk, ein bunter Budenzauber war, sondern ein wirkliches Spektakel. Es war Torwart Andreas Wolff, der maßgeblichen Anteil daran hatte, dass die Realität ab den ersten Minuten mit der großen Inszenierung Schritt halten konnte. Seine Vorderleute kämpften da noch sichtbar um die Feinjustierung in der neuen Welt, die sich zwar in den altbekannten Maßen von 20x40 Metern verortete, aber doch eine andere war, als sonst. 61 Prozent aller Bälle hatte der Torwart am Ende gehalten, eine außerirdische Quote. Eine, die es im Spitzenhandball auf diesem Niveau eigentlich gar nicht gibt. Der deutsche Torwart fraß die Schweiz einfach auf.
"Ich wusste, dass Andy gut ist, aber dass er sowas heute macht, das ist von einem anderen Stern", sagte Spielmacher Juri Knorr, mit sechs Treffern erfolgreichster deutscher Torschütze. "Du bist ein Gigant", schrieb Kretzschmar bei Instagram voller Bewunderung. Nach 20 Minuten hatte der 32-jährige Torhüter doppelt so viele Bälle gehalten, wie er reingelassen hatte. Als der Europameister von 2016 nach gut 50 Minuten zur Bank schritt, um seinen Arbeitstag zu beenden, erhoben sich die mehr als 50.000 Menschen und feierten den Spieler des Abends mit minutenlangen Sprechchören. Es war ein echter Moment.
"Ich habe es genossen. Diese Atmosphäre war fantastisch. Daran könnte man sich glatt gewöhnen", sagte Wolff. Als sich die Mixed Zone, wo sich Journalisten und Sportler nach den Spielen treffen, schon geleert hatte, und jeder deutsche Handball-Nationalspieler seine Gefühle nach dem Weltrekordspiel in zahlreiche Mikrofone diktiert hatte, stand der Torwart-Held, um den sie im Herbst nach einem Bandscheibenvorfall noch zittern musste, immer noch plaudernd da. So lange, dass DHB-Pressechef Tim Oliver Kalle seinen Torwart irgendwann ermahnen musste, sich doch bitte langsam noch den wartenden Bewegtbild-Kollegen zu stellen. Wolff kam dem gerne nach, mehrsprachig.
Das Interesse an den deutschen Handball-Helden war auch nach dem Weltrekordspektakel von Düsseldorf gewaltig und sie befriedigten es, wie sie schon zuvor auf dem Feld die Ansprüche an ein erfolgreiches Auftaktspiel befriedigt hatten. Die 14 Tore, die die deutsche Abwehr im Verbund zuließ, sind ein fantastischer Wert. Das Spiel war so früh entschieden, dass der Bundestrainer seinen wichtigsten Spielern um Knorr und Golla früh lange Pausen gönnen konnte. "Es war ein phänomenales Rückzugsverhalten der Mannschaft, das hat uns extrem geholfen. Wir haben gefühlte acht Bälle zurückgeholt, die verloren gegangen sind. Also Riesenkompliment an die Einstellung der Jungs."
"Leistung in einem so wichtigen Spiel"
Ob die Schweiz schwächer ist, als der deutsche Trupp sie im Vorfeld gemacht hatte? Oder hatte die deutsche Mannschaft das Team um den einstigen Weltstar Andy Schmid und Bundesligatoptorschützen Manuel Zehnder auf dem Feld schwächer gemacht, als sie eigentlich ist? Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte. "Ich bin sehr erleichtert, dass diese Leistung kam in so einem wichtigen Spiel auch", lobte Bundestrainer Alfred Gislason, der sich beeindruckt zeigte: "Das war eine extrem schöne Atmosphäre und natürlich ist das ein Erlebnis auch für einen alten Trainer wie mich, das mitzuerleben. Mit 53.000 Zuschauern im Rücken, das war eine phänomenale Werbung für unseren Sport. Ich bin extrem stolz, dabei gewesen zu sein."
Die Eidgenossen waren schnell willkommene Statisten im ganz großen deutschen Handball-Theater: Die gigantische Party störten die mit zahlreichen Bundesligaprofis gespickte Equipe zu keiner Zeit. Früh waren sie zermürbt von der hart arbeitenden deutschen Abwehr, vom vor allem in der zweiten Halbzeit überragenden Rückzugsverhalten und vor allem vom ab der ersten Minute entfesselt aufspielenden Wolff. "Oh wie ist das schön", tönte es früh durch die Halle, ab Mitte der zweiten Hälfte überrollten die Gastgeber die freundlichen Gäste einfach.
Düsseldorf - mythische Stätte des deutschen Handballs
Der Rausch wird sich schnell verflüchtigen, jetzt, da die EM läuft und das deutsche Team trotz aller Euphorie schnell in den herausfordernden Alltag des Heim-Turniers einsteigen muss. Vorne war nicht alles berauschend, auf der größten Bühne, die dieser Sport jemals bespielen durfte, passierten den deutschen Spielern noch zu viele Fehler, die Effizienz ließ arg zu wünschen übrig. Darüber wird man sprechen, denn über diesen Abend, über den monatelang geredet, der herbeigefiebert, akribisch vorbereitet und dann final in die Verantwortung von Wolff, Knorr und Co. gelegt wurde, ist aus Sicht des Bundestrainers nun alles gesagt.
"Erstmal genießen wir das, was wir heute erreicht haben. Und dann müssen wir ab morgen nach der Ankunft in Berlin uns voll auf Nordmazedonien fokussieren", sagte Bundestrainer Alfred Gislason nach dem vor allem mit Blick auf den weiteren Turnierverlauf so elementaren Auftaktsieg. Am Sonntag (20.30 Uhr/ ARD, Dyn und im Liveticker auf ntv.de) steht der nächste Schritt auf dem Weg zur seit 2016 herbeigesehnten Medaille an, dann in der Mercedes-Benz-Arena in Berlin, in gewohnten Dimensionen.
Das Düsseldorfer Stadion jedenfalls steigt mit diesem Spiel in die Riege der mythischen Stätten des deutschen Handballs. Die Westfalenhalle I, wo in den 1970ern die großen Deutschen Europapokal-Schlachten geschlagen wurden, die gewaltige Arena in Köln, Bühne des "Wintermärchens" 2007, die Tauron Arena von Krakau, wo sich die "Bad Boys" 2016 sensationell und angetrieben von einem entfesselten Andreas Wolff zum Europameister machten oder die Brøndby-Halle in Kopenhagen, wo 1978 erstmals ein deutsches Handball-Wintermärchen vollendet wurde. Ex-Nationalspieler Kretzschmar bekennt: "Das erste Mal nach Beendigung meiner aktiven Karriere war ich ein wenig neidisch auf die Jungs auf der Platte."
Quelle: ntv.de