Eriksen-Kollaps und Witz-Elfer Die bitteren Tränen von Dänemarks Kriegern
08.07.2021, 12:56 UhrSo hätte die erstaunliche Reise von Dänemarks Fußballern nicht enden sollen: Ein höchst umstrittener Elfmeter sorgt im Halbfinale der EM gegen England für die Entscheidung. So groß die Enttäuschung ist, so stolz ist der Trainer auf die Leistung seines Teams.
In Dänemarks Medien wurde die Situation knallhart analysiert. Ohne jede Emotion hieß es in der "Berlingske", der ältesten noch erscheinenden Tageszeitung des Landes: "Abenteuer zu Ende - Dänemark raus bei der EM". Kompliment, faktisch souveräner lässt sich die 1:2-Pleite im Halbfinale gegen England nicht zusammenfassen. Aber wohl niemand, der dieses Turnier verfolgt hat, wird am späten Mittwochabend um kurz vor Mitternacht dieses nüchterne Gefühl geteilt haben. Die Dänen, das waren doch Helden. Ihre Reise ein Märchen.
Und die Bilder, die die Spieler von Trainer Kasper Hjulmand nach dem Verlängerungs-Drama gegen England in Wembley lieferten, sie wollten auch nicht zur Schlagzeile passen: "Abenteuer zu Ende - Dänemark raus bei der EM". Die Spieler weinten bittere Tränen, sie lagen auf dem Boden, fassungslos, traurig, ermattet. Sie konnten nicht mehr. Sie hatten alles gegeben. Sie hatten vier Wochen in einem absoluten Ausnahmezustand gelebt und gespielt. Sie hatten sich auf eine bemerkenswerte Weise vom Herzstillstand-Schock um ihren Top-Star Christian Eriksen erholt. Der Spielmacher war im dänischen Auftaktspiel gegen Finnland kollabiert.
Es war eine bemerkenswerte und begeisternde Kraftanstrengung, sich nach diesem wohl emotional brutalsten Moment in der Geschichte der Europameisterschaften aufzurichten, sich auf den Fußball zu konzentrieren und sich ins Halbfinale zu powern. Und auch dort wäre das nächste kleine Wunder möglich gewesen. Es wurde aber jäh zertrümmert. Von einem Elfmeterpfiff, der international für extrem große Aufregung und Empörung sorgte. Denn außer Schiedsrichter Danny Makkelie hatten nicht viele Menschen einen Kontakt gesehen, der einen Pfiff rechtfertigte. Aber der Schiedsrichter hat eben die Entscheidungsmacht. Der VAR griff nicht ein (warum, das lesen Sie hier), so blieb es beim Elfmeter. Den verwandelte Harry Kane im Nachschuss (104.) - die Entscheidung.
Nichts mehr im Tank
Dänemark war platt. Ein Aufbäumen nicht mehr möglich. Bei all dem Willen, den die Spieler hatten. Mental und körperlich war die Mannschaft ausgelaugt. Schon im Viertelfinale gegen die starken Tschechen (2:1) wurde der Substanzverlust nach den zehrenden Wochen gegen Ende deutlich. Gegen England konnte er schließlich nicht mehr kompensiert werden. Der Kader der Dänen war einfach zu dünn. Es fehlte ein Stratege, ein Stratege, wie es Eriksen ist. Ein Mann, der das Tempo diktieren kann, der ein Gefühl für Kraft und Verfassung des Teams hat.
Noch bevor die Mannschaft ein Gefühl für die erreichte Leistung bekam, bevor sie stolz auf sich sein konnte, spürten sie Wut. Die Wut über die Art, wie es zur Niederlage in Wembley kam. "Ich habe keinen Elfmeter gesehen. In einem solchen Spiel so zu verlieren, ist einfach bitter", sagte Hjulmand: "Es fühlt sich nicht gerecht an. Das ist etwas, das mich wütend macht. Ich bin enttäuscht." Auch die Spieler waren fassungslos. "Ich hatte das Gefühl, dass es nicht ganz fair war", sagte Angreifer Martin Braithwaite: "Aber ich muss vorsichtig sein, was ich sage."
Vorsichtig in der Bewertung des Geleisteten muss niemand sein. Schon vor dem Halbfinale hatte der Coach eine erste Einschätzung gegeben, wie großartig diese Reise war. "Der Kollaps von Christian hat alles verändert. Wir brauchten in diesem Moment die Liebe und die Unterstützung. Das hat uns der Flügel gegeben." Vor allem ab dem dritten Gruppenspiel. Russland wurde in einem euphorischen Rausch vor knapp 25.000 Fans in Kopenhagen mit 4:1 vermöbelt. Das Stadion ist nicht weit entfernt von dem Krankenhaus, in dem Eriksen nach seinem Kollaps behandelt und operiert worden war. Eine mystische Energie witterten manche.
"Die Jungs sind Krieger"
Auch das Achtelfinale wurde zur großen Show. Wales, vor fünf Jahren, bei der letzten EM, noch im Halbfinale wurde mit 4:0 hergespielt. Spätestens jetzt war Dänemarks Erzählung nicht mehr die eines euphorisierten Märchens, sondern die von einer richtig guten Mannschaft. Zahlreiche Experten hatten das übrigens bereits vor dem Turnier vorhergesagt. Auch gegen Tschechen wurde die Qualität deutlich, bis ihnen die Kraft ausging und der Sieg am Ende leidenschaftlich verteidigt werden musste. "Die Jungs sind Krieger", schwärmte Hjulmand über seine Fußballer, die in ihrem Körper noch Power fanden, wo andere nur noch Lactat haben.
Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen meldete sich nach dem bitteren Knock-out und dankte den Fußballern. "Ihr habt Dänemark um euch herum versammelt. Ihr habt einen außergewöhnlichen Zusammenhalt gezeigt, als es wirklich zählte. Selten sind wir stolzer gewesen! Danke für die Reise!" Emotional war das deutlich näher an der Wahrheit als die knallharte Analyse der dänischen Medien. "Abenteuer zu Ende - Dänemark raus bei der EM."
Quelle: ntv.de