König tröstet, Trainer weg? Verfluchtes England!
15.07.2024, 07:34 UhrEnglands Fußballleiden setzt sich fort. Mindestens zwei weitere Jahre. Seit 1966 will es nicht mehr klappen mit einem Titel. Dabei sind die Three Lions erneut knapp dran. Trainer Gareth Southgate weist eine außergewöhnliche Bilanz auf - und ist trotzdem umstritten.
Immer nur Vorfreude ist auch, Pardon, kacke. Niemand fühlt das mehr als England. Seit 1966 wartet das Mutterland des Fußballs auf einen großen Titel. Geoff Hurst bleibt der letzte Held der weinenden Three Lions. Zwei Treffer und das legendäre Wembley-Tor erzielte der Stürmer von West Ham United im Finale der WM gegen die deutsche Elf (4:2).
Danach gab es nur noch Tränen und Dramen. So auch an diesem Sonntagabend in Berlin. Die spanische Nationalmannschaft rang England mit 2:1 nieder, ist nun Rekordeuropameister. Und England leckt sich einmal mehr die Wunden. Wie vor drei Jahren, bei der letzten EM, ging der Löwe vor dem letzten Biss k.o.
Eine EM als Achterbahnfahrt
Mit rationalen Argumenten mag das auf der Insel niemand mehr erklären. Höhere Kräfte werden beschworen, um das Unerträgliche erträglich zu machen. Weil man gegen das Übernatürliche eben nichts tun kann. Die "Sun" beklagt den erneuten Kummer für Coach Gareth Southgate und seine Helden. "Jetzt scheint es, als sei er wirklich verflucht. Genau wie der Rest von uns." Wie der weiter titellose Bayern-Star Harry Kane, wie die Fans, die sich durch das "Shithole" Gelsenkörken und durch die Westfalenfälle von Dortmund nach Berlin geschrien hatten. Durch Wind und Wetter, durch Dramen und jede Menge "Garbage-Football", wie sie schimpften.
Was war das für eine Reise: Immer am Rande des Abgrunds tanzend, um sich mit einer schwungvollen, dramatischen Drehung doch noch aufs sichere Terrain des Weiterkommens zu schwingen. Mit einem adaptierten Heldenfußball, den Real Madrid unter Trainer-Ikone Carlo Ancelotti zur Perfektion gebracht hat. Und wie passend ist es da, dass mit Jude Bellingham ein Königlicher zum Anführer des Löwenrudels geworden war?
Die Reise changierte zwischen Euphorie und Erwartung, Becherwürfen auf den Trainer, der schließlich im Viertelfinale vor den Fans tanzte und sich eine Runde später die Anspannung der vier Turnierwochen aus dem Leib schrie. Der stille Southgate steigerte sich in emotionale Turbulenzen. Der Sieg gegen die Niederlande brachte die Fans und den Trainer, dessen Fußball sie so verachten, einander plötzlich nahe.
Southgates Namen mit dem Scheitern verbunden
Seit acht Jahren ist er nun im Amt. Und hat eine herausragende Bilanz aufzuweisen. Vier Turniere liefen unter seine Verantwortung. Zweimal führte der Weg ins Finale (2021 und 2024), einmal ins Halbfinale (WM 2018) und einmal ins Viertelfinale (WM 2022). In der Geschichte des englischen Fußballs gibt es keinen erfolgreicheren Trainer. Außer eben Wembley-Weltmeistermacher Alf Ramsey.
Und trotzdem ist Southgate weit weg davon, in der Heimat geliebt zu werden. Obwohl auch er, der jeden Gegenwind aushält, sich danach sehnt. Wie er nach dem Halbfinale offenbart hatte. Aber seit 1996 ist sein Name mit dem Scheitern verbunden. Gegen das deutsche Team vergab er 1996 als einziger Spieler seinen Elfmeter. Die Three Lions scheiterten im alten Wembley-Stadion im Halbfinale.
Southgate hatte vor, diese Schmach endlich zu tilgen. Er hatte vor, England eine der größten Fußballnächte der Geschichte zu schenken. Doch Spanien war an diesem Sonntagabend besser. Die beste Mannschaft des Turniers spielte in der 86. Minute einen Konter fantastisch aus, Mikel Oyazarbal traf zum 2:1. Für die Engländer reichte es nicht mehr zum nächsten Comeback. In diesem Turnier hatten sie sich mehrfach in den letzten Minuten vor dem Absturz gerettet. Mit ihrer individuellen Klasse. Nicht mit einer erdrückenden Mannschaftsleistung, wie sie dem Kader eigentlich zugetraut wird.
Mit anderthalb Milliarden Euro wurde das Aufgebot gewogen. Das verspricht eigentlich alles: defensive Stabilität, dominantes Mittelfeld, spektakuläre Angriffswucht. Doch gerade die ging dem Team ab. Der Fußball wirkte gehemmt, er wurde als hässlich abgekanzelt. Weil er eben nur auf eiskalte Kontrolle und Ergebnis aus war. Das, was die Menschen am Fußball lieben, wurde gnadenlos getilgt. Was ist das Gegenteil von mitreißend? Genau das war das englische Spiel. Das aber war auf surreale Weise faszinierend.
"Das wird ihn verletzen"
Tore: 1:0 Williams (47.), 1:1 Palmer (73.), 2:1 Oyarzabal (86.)
Spanien: Simón - Carvajal, Le Normand (83. Nacho), Laporte, Cucurella - Rodri (46. Zubimendi), Fabián Ruiz Peña - Yamal (89. Merino), Olmo, Williams - Morata (68. Oyarzabal). - Trainer: De La Fuente
England: Pickford - Walker, Stones, Guehi - Saka, Mainoo (70. Palmer), Rice, Shaw - Foden (89. Toney), Bellingham - Kane (61. Watkins). - Trainer: Southgate
Schiedsrichter: Francois Letexier (Frankreich)
Gelbe Karten: Olmo - Kane, Stones, Watkins
Zuschauer: 71.000 (ausverkauft) in Berlin
Southgate brachte das erneut ein Maximum an Kritik ein, auch wenn er sich im Turnier als weniger resistent gezeigt hatte, als ihm nachgesagt wurde. So setzte er ab dem Achtelfinale auf den Youngster Kobbie Manioo an der Seite von Declan Rice. Das gab dem Spiel mehr Stabilität und Wucht. Dass er nicht dem Verbrechen am Spiel schuldig gesprochen wurde, lag einzig daran, dass er Runde für Runde in diesem Turnier überlegte.
Man kann einen Trainer kritisieren für seine Spielidee, seine Aufstellungen, seine Wechsel. Aber ihn schuldig sprechen im Erfolgsfall? Schwierig bis unmöglich! Selbst für den wütendsten Richter. Wie es nun nach dem Finale weitergeht? Unklar.
Schon während des Turniers war reichlich darüber spekuliert worden, ob es das letzte Turnier von Southgate ist. "Ich vermute, es wird Southgates letztes Spiel gewesen sein", sagte der frühere englische Weltklasse-Stürmer Alan Shearer, der mit Southgate 1996 durch die Hölle gegangen war. "Er hat uns vor drei Jahren ins Finale gebracht, auch in dieses wieder - und nicht gewonnen. Das wird ihn verletzen, vielleicht denkt er, es sei Zeit für jemand anderen." Ein Titel wäre ein großartiges Ende gewesen. Ein kleiner Mittelfinger in Richtung seiner Kritiker, auch wenn dieser Gentleman den selbst nie erheben würde.
"Ich muss mit den richtigen Menschen sprechen"
Der 53-Jährige wollte am Abend der nächsten Niederlage nicht über seine Zukunft reden. "Ich glaube nicht, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist, eine solche Entscheidung zu treffen. Ich muss mit den richtigen Menschen sprechen. Das ist nichts für jetzt." Der englische Fußballverband FA hatte schon vor dem Endspiel signalisiert, mit Southgate gerne mindestens bis zur WM 2026 in den USA, Mexiko und Kanada weiterarbeiten zu wollen. Der ehemalige Verteidiger hatte seinen Vertrag vor dem Turnier noch nicht verlängert. Englands trauriger Kapitän Harry Kane sagte: "Es ist nicht der richtige Moment, um darüber zu sprechen. Wir wollten auch für ihn gewinnen."
Nach der nächsten bitteren Enttäuschung kamen derweil Aufmunterungen von höchster Stelle. König Charles III. richtete große Worte an Trainer und die Spieler. "Auch wenn Ihnen der Sieg heute Abend verwehrt geblieben ist, möchten meine Frau und ich Sie und Ihr Team mit meiner ganzen Familie auffordern, den Kopf hochzuhalten", heißt es in einem bei X geteilten Schreiben des obersten Royals. "Seien Sie sich bitte bewusst, dass Ihr Erfolg [...], an sich schon eine großartige Leistung ist, die den Stolz einer Nation mit sich bringt, die die Three Lions heute weiter anfeuern wird - und bei den vielen Triumphen, die zweifellos noch vor uns liegen."
Quelle: ntv.de